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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0019

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Zur Einführung

19

Gegenwärtigen begreiflich, das Gegenwärtige mit Hilfe des Vergangenen verständ-
lich zu machen«29. Tatsächlich lädt der Problemkreis von Bekleidung und Gesell-
schaft zu einem kritischen Dialog der auf die Moderne zugeschnittenen, häufig
zeitdiagnostisch angelegten Theoreme der Sozialforschung mit dem Informa-
tionshorizont des historischen Materials ein. Ein Syntheseversuch kann dabei kei-
nesfalls die Adaption der Vergangenheit an die Gegenwart zum Ziel haben, die
gleichsam im Gefolge aktueller Theorie und Terminologie ein modernes Selbst-
deutungskonzept einer früheren Epoche einfach überstülpt. Gleichwohl mag die
Verwendung aktueller Forschungstheoreme in idealtypischem Sinne zur »gei-
stigen Beherrschung des empirisch Gegebenen« beitragen, solange sie gleichsam
»nicht Ziel, sondern Mittel zum Zweck der Erkenntnis« der Vergangenheit blei-
ben30: Peter von Moos hat in diesem Zusammenhang von einem heuristischen
Anachronismus<, gesprochen, »d.h. der Ausgang von anscheinend ausschließlich
modernen Phänomenen unter der zu erprobenden und wo nötig zu falsifizieren-
den Hypothese, sie lassen sich in irgendeiner anderen Form in vormodernen, sog.
alteuropäischen Verhältnissen wiederfinden«31. Ein solcher Zugriff hat zweifellos
unter der Prämisse sorgfältigen quellengebundenen Argumentierens zu erfolgen.
Mithin gilt es zu berücksichtigen, daß jede Art der Modellbildung aus dem zeit-
gebundenen Verständnishorizont des Historikers heraus sich gegenüber der Fremd-
heit und Vielschichtigkeit vergangener Lebenswelten zwangsläufig systematisch im
Unrecht befindet. Gerade hierin hegt jedoch das spezielle Erkenntnispotential
einer theoriegeleiteten Annäherung an das historische Phänomen der Kleider-
wahl. Die Sicht auf die Fremdheit des Mittelalters wird durch einen Referenz-
punkt im wissenschaftlichen Diskurs der Moderne keineswegs a priori verstellt.
Vielmehr vermag der permanente Reflexionsakt über die Distanz der hypotheti-
schen Vergangenheitskonstruktion der Gegenwart zur gelebten Wirklichkeit der
Epoche deren charakteristischer Andersartigkeit erst gedankliche Kontur zu ver-
leihen. Gleich einer Musterkarte ermöglicht der Blick auf Aspekte aktuellen Klei-
derverhaltens den Abgleich mit den Wirklichkeitsrepräsentationen des histori-
schen Quellenmaterials.
Erste Expeditionen ins Grenzgebiet zwischen den Problemfeldern historischer
Kleiderkunde und sozialwissenschaftlicher Identitätsdebatten haben bereits
bemerkenswerte Detailbeobachtungen zu Tage gefördert. Der durch die Forschung
vorgezeichneten Fährte zu folgen, muß gleichwohl schon im Schritt der begriffli-
chen Annäherung schwer fallen, führt sie doch auf bekannt problematisches Ter-
rain. Die Forschung ist zuletzt nicht immer sanft mit dem Terminus >Identität<
umgesprungen: Er ist als »Inflationsbegriff Nr. I«32 bisweilen in den Bereich der
diffus-universellen »Plastikwörter« verbannt worden, »die alles und nichts bedeu-
29 Stern, Mode und Kultur, Bd. 1, S. 9f.
30 Max Weber, Die >Objektivität< sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen
T982, S. 146-214, S. 208.
31 Von Moos, Einleitung, S. 2.
32 Karl-Michael Brunner, Zweisprachigkeit und Identität, in: Psychologie und Gesellschaftskri-
tik 44 (1987), S. 57-75, S. 63, zumeist zitiert nach: Heiner Keupp, Diskursarena Identität. Lernpro-
zesse in der Identitätsforschung, in: Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspekti-
ven der Identitätsforschung, hrsg. von Heiner Keupp/Renate Höfer, Frankfurt a.M. 1997,
S. 11-39, S. 29.
 
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