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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0057

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2. Von der Lesbarkeit der Welt

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Signum weltlicher superbia, sondern stellte seinen Lesern zugleich das positive Bei-
spiel früherer Generationen mahnend vor Augen: »Denn in vergangenen Epochen
waren alle Schuhe rund nach der Form der Füße gemacht und diese wurden von Hoch und
Niedrig, Kleriker und Faien gleichermaßen gebraucht.«102 Mit ähnlicher Konnotation
wird das Thema seit der Mitte des 14. Jahrhunderts erneut aufgegriffen und behan-
delt. Nicht nur der Vergleich mit Tierschwänzen gewann mit der Wiederkehr modi-
scher Schuhschnäbel abermals an Konjunktur103, auch das Nützlichkeitsargument
gehörte wiederum zum Standardrepertoire modekritischer Kommentare: »Gott gab
Dir als Felten nach seinem Bild die Zehen, die formst Du nach anderer Gestalt lang und
spitz mannigfalt, so krumm wie die Nase des Teufels«, so dichtete etwa der österreichi-
sche Spruch- und Wappendichter Peter Suchenwirt104, und sein Zeitgenosse Benesch
Krabice von Weitmühl mokierte sich in seiner Chronik zum Jahr 1367 über die
Modenarren mit in Schuhen »mit außerordentlich langen Spitzen, so daß sie nur schwer
gehen und laufen können«105. Seine Kritik wußte der Prager Domherr mit lehrhaften
Anekdoten zu untermauern. Ein bekanntes Erzählmotiv aufgreifend, berichtet er
von einem Gefecht zwischen böhmischen und sächsischen Rittertruppen, in dessen
Verlauf seine Landsleute »wegen der engen Kleider und der Schnabelschuhe von den
Feinden besiegt, ergriffen und grausam niedergemacht wurden«106. Auch der italienische
Novellist Franco Sacchetti machte die selbstgewählten motorischen Einschränkun-
gen zur Zielscheibe satirischer Einlassungen: »Ein jeder trachtet nach Freiheit und raubt
sie sich selber. Unser Herrgott hat den Fuß frei geschaffen und viele vermögen infolge einer
außerordentlich langen Schuhspitze nicht mehr zu gehen.«107 Gerade weil der Schnabel-
schuh wegen seines Zwanges zur gemessen-gravitätischen Schrittfolge ein überaus
beliebtes Mittel sozialer Distinktion darstellte, weisen die zeitgenössischen Kritiker
auf die Aspekte der Selbstobstruktion und Körperdeformierung als Schattenseite

102 Ebd.: Nam antea omni tempore rotundi subtolares ad formam pedum agebantur eisque summi et medio-
cres clerici et laici competenter utebantur.
103 Chronique latine de Guillaume de Nangis de 1113 à 1300, avec les continuations de cette chro-
nique de 1300 à 1368, hrsg. von Hercule Géraud, Paris 1843, a. 1365, S. 368: Sotulares habebant, in
quibus rostra longissima in parte anteriori ad modum unius cornu in longum; alii in obliquum, ut grif-
fones habent retro, et naturaliter pro unguibus, ipsi deportabant.
104 Peter Suchenwirt's Werke aus dem vierzehnten Jahrhunderte. Ein Beytrag zur Zeit- und Sitten-
geschichte; zum ersten Mahle in der Ursprache aus Handschriften hrsg. von Alois Primisser,
Wien 1827, XL, v. 57-61: Got der gab dir tze lehen / Nach im selb dein tzehen; / Die machst du anders viel
gestalt / Lanch und spitzich manichvalt, / Chrump recht als des teufels nas.
105 Cronica ecclesiae Pragensis Benessii Krabice de Weitmile, hrsg. von Josef Emler, in: Fontes re-
rum Bohemicarum, tom. IV. Prag 1884, S. 459-548, a. 1367, S. 536: Simili modo calceos rostratos et
cum longissimis nasibus deferebant, ut male possent incedere vel ambulare (Übers, hier wie im Folgen-
den angelehnt an Schultz, Deutsches Leben, S. 300L).
106 Ebd. a. 1367, S. 536: Accidit itaque, ut de mense proxime preterito huius anni quidam nobiles regni Boe-
mie congregatis aliquibus gentibus suis properarent Saxoniam contra dominum de Wedrow, et instante
prelio uterque exercitus descendit de equis, et inceperunt preliari pedestres more illius patrie, et propter
strictas vestes et rostratos calceos Boemi devicti sunt ab inimicis et capti ac immaniter trucidati. Sibi im-
putent, qui ad bellum properantes artas ac strictas vestes et rostratos calceos domi non reliquerunt. Vgl.
analog auch Martin Clauss, Von spitzen Schuhen und ungehörten Helden. Zum Umgang der
mittelalterlichen Historiographie mit Kriegsniederlagen am Beispiel der Schlacht von Nikopo-
lis, in: Arbeitskreis Militär ge schichte e.V, newsletter 10 (2005), S. 15-18.
107 Franco Sacchetti, Il Trecentonovelle, hrsg. von Emilio Faccioli (Nuova Universale Einaudi 111), Turin
1970, Nov. 176, S. 524: Forse sera fare penitenza ciascuno di tante cose vane; che si sta un di in questo mondo, e
in quello si mutano mille fogge e ciascuno cerca libertà, ed elli stesso se la toglie. Ha fatto il nostro Signore il piè
libero; e molti con una punta lunghissima non possono andare (Übers. Thiel, Geschichte, S. 125).
 
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