Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0064

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
64

I. Einordnung und Auszeichnung: Spielräume mittelalterlicher Kleiderwahl

anderen Sünden hervorgegangen sind«143. Da Hoffart aber gote widerzeme, bekannte sich
der Rat zu seiner Verantwortung, die Bürger ihrer Stadt vor ihrem eigenen Über-
mut und damit indirekt vor Schädigung durch die unausbleibliche Strafreaktion
Gottes zu bewahren144. Diese Maßnahme geschehe nicht allein um des Ansehens
und Nutzens der Stadtbewohner willen, das Stadtregiment glaubte zugleich gote zu
lohe linde zu eren linde den luten zufrummen zu handeln145. Die Krisenintervention der
Speyrer Obrigkeit folgte damit dem aktuellen Stand zeitgenössischer Theorie und
Wissenschaft. Immerhin hatte im selben Jahr eine hochrangige Versammlung fran-
zösischer Ständevertreter ganz ähnlich auf die katastrophale Niederlage bei
Poitiers und die Gefangennahme ihres Königs Johann II. reagiert. Die Teilnehmer
eines im Oktober 1356 in Toulouse abgehaltenen Treffens empfahlen angesichts der
existentiellen Gefährdung des Herrscherhauses nicht etwa militärische Maßnah-
men, sie richteten ihr Augenmerk vielmehr auf den ausufernden Kleiderluxus.
Sofern der König nicht befreit würde, sollte im folgenden Jahr im Langue d'oc
weder Mann noch Frau »Gold oder Silber, Perlen und Bunt- oder Grauwerk, zerhauene
Röcke oder Kappen oder irgendwelche anderen Extravaganzen« tragen146. Die modische
Dekadenz der einheimischen Eliten war bereits zehn Jahre zuvor als ursächlich für
ein himmlisches Strafgericht in Form der Vernichtung der französischen Ritter-
schaft bei Crecy benannt worden: »Gott wollte die Exzesse der Franzosen durch seine
Geißel, den König von England, ahnden«, so der anonyme Autor der Grandes Chroni-
ques147. Derartige Diagnosen konnten gerade im Westen Europas auf eine lange
Traditionslinie zurückblicken. Bereits 793 hatte der Hofgelehrte Alkuin von York
den Kleiderluxus als Ursache für den Wikingerüberfall auf das Kloster Lindis-
farne benannt und die dortigen Mönche zur Rückkehr zu regelkonformem Habit
auf gerufen148. 1188 waren die bislang verfeindeten Könige von Frankreich und
England unter dem Eindruck der militärischen Katastrophe von Hattin überein-
gekommen, in einer gemeinsamen Heeresordnung für den Kreuzzug zu verfügen,
143 Speyerer Kleiderordnung, S. 58: Wir der zuo Spire bekennent uns an disent briefe, daz wir hant bemer-
ket grozen bresten, der ietzen ist in stetden und in lande an hochvarte und ubermuote, die ouch die erste
der sunde gewesen ist, die ie beschach, unde usser der selben sunde alles sunden gewurtzel sint.
144 Ebd.: unde als die selbe sunde gote widerzeme ist unde den luten schedelichen, als daz nu wol lantsichtig
unde schinlich worden ist an ertbideme unde an grossen plagen, damit stetde, lant unde lute geplaget sint
unde verdorben sint an libe unde an guote: dar umbe, wanne wir unsere stedte und unserre bürgere ere,
nutz, frummen und Seligkeit gar ture gesworen hant und unsere bürgere billiche vor schaden, ungemache
behüte sollent, als verre wir kunnent oder mogent, so haben wir mit gotes helfe unde mit guoter beratnisse
dar über gesessen (...).
145 Ebd.: habent solicite stucke, als hie nach benant unde beschriben sint, die hochvart und ubermuot bernt,
stiftent unde mâchent, verbotden gote zuo lobe unde zuo eren unde den luten zuo frummen unde zuo
nutze in diese wise, als hie nach geschrieben stet. Vergleichbare Formulierungen aus italienischen
Städten bei Killerby, Sumptuary Law, S. 102f.
146 Chronique des règnes de Jean II et de Charles V (Les Grandes Chroniques de France, publiées
pour la Société de l'histoire de France), hrsg. von Roland Delachenal, 5 Bde., Paris 1910-31, Bd.
2, S. 86f.: que homme né femme dudit pays de Langue d'oc né porteroit par ledit an, sé le Roy n'estoit
avant délivré, or né argent né perles, né vair né gris, robes né chapperons découppéz né autres cointises
quelzconques et que aucuns meuestrieus, jugleurs ne joueroient de leurs mestiers menesterieus jugleurs
ne joueroient. Vgl. dazu Stella Mary Newton, Fashion in the Age of the Black Prince: A Study of
the Years 1340-1365, Woodbridge 1980, S. 53.
147 Les grandes Chroniques de France, pubi, pour la Société de l'histoire de France, hrsg. von Jules
V iARD, 10 Bde., Paris 1920-1953, Bd. 9, S. 285: Et pour ce, ce ne fu pas merveille se Dieu volt corrigier
les excès des Francois par sonflael le roy d'Angleterre.
148 MGH Epistolae Karolini aevi 2, hrsg. von Ernst Dümmler, Berlin 1895, Nr. 19 und 20, S. 53-58.
 
Annotationen