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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0066

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I. Einordnung und Auszeichnung: Spielräume mittelalterlicher Kleiderwahl

Eintracht zum Ganzen sich fügen«152. Den jeweiligen Statusgruppen mochte in der
Folge dieses Gedankengangs auch eine »typisch wirksam in Anspruch genom-
mene positive oder negative Privilegierung in der sozialen Schätzung« erwachsen,
wie es der vielbemühten Definition der »ständischen Lage« durch Max Weber ent-
spricht153. Doch speiste sich die in der gesellschaftlichen Selbstsicht verankerte
Standesordnung weniger aus einer theoretischen Reflexion sozioökonomischer
Entwicklungsstufen und funktionaler Differenzierungsgrade. Sie ruhte gleichsam
auf einem sinngebenden Sockel theologisch-metaphysischer Weltdeutung. Dieser
verlieh dem mittelalterlichen Blick auf die gesellschaftliche Gliederung ein zeitge-
bunden von neuzeitlichen Vorstellungen abweichendes Profil: »Die modernen so-
zialgeschichtlichen oder sozialwissenschaftlichen Definitionen des Begriffs >Stand<
beziehen diese transzendente Dimension in der Regel nicht ein«154. Gerade sie aber
bildet weit mehr als die heute aktuellen Kategorien der Gesellschaftsanalyse die
Grundlage für das Verständ nis mittelalterlicher Normsetzung.
Ziel mittelalterlicher Kleiderordnungen war zweifellos auch eine symbolische
Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die dabei vorgenommene Strukturierung des
gesellschaftlichen und kulturellen Raumes erfolgte indes nicht entlang heute gülti-
ger soziologischer Differenzierungsmaßstäbe. Durch die ideelle Rückbindung der
irdischen Lebensführung an die Maximen gottgesetzter Ordnung erhielten die
Erlässe städtischer und territorialer Herrschaftsinstanzen eine unverkennbar trans-
zendentale Stoßrichtung. Nicht die gesellschaftlichen Klassen-, Schichten- oder
Milieugrenzen waren von der Hoffart bedroht, sondern die überzeitlichen Ord-
nungsmaßstäbe der Schöpfung insgesamt. Als Ausweis verderblichen Wahnsinns
bezeichnete daher die Rupertsberger Äbtissin Hildegard von Bingen die mittels
verschiedener Kleiderzeichen vor genommene Selbstüberhebung des minor ordo
gegenüber dem höheren Stand: Solch eine Manifestation der Ursünde Hochmut sei
»gleichsam, als ob sich die Kaste der Engel über die der Erzengel erhebe«155. Die Soziallehre
der adelsstolzen Visionärin vertrat in ihrer Quintessenz ein geburtsständisches
Prinzip, dessen ideale Entsprechung sie im Tierreich und in der jenseitigen Rang-
ordnung der Engel verwirklicht sah. Die Hierarchie des Himmels nahm sich auch
Berthold von Regensburg zum Vorbild ständedidaktischer Ermahnungen. In sei-
ner Predigt von den zehn Chören der Engel und der Christenheit propagierte er
eine Analogie von himmlischer und irdischer Daseinsordnung: »Und demnach hat

152 Otto Gerhard Oexle, Art. Stand, Klasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexi-
kon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/
Reinhard Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1990, S. 155-200, S. 156; zugleich Ders., Deutungsschemata
der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wis-
sens, in: Mentalitäten im Mittelalter, hrsg. von Frantisek Graus (Vorträge und Forschungen 35),
Sigmaringen 1987, S. 65-117, S. 79.
153 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen
T972, S. 179.
154 Oexle, Statik, S. 63.
155 Hildegard von Bingen, Scivias, hrsg. von Adelgund Führkötter, 2 Bde. (Corpus Christianorum
Continuatio Medievalis 43/43A), Turnhout 1978, II visio 5, S. 198: Hoc ibi est ubi minor ordo supra
maiorem ordinem qui de antiquo consilio principalium magistrorum in uoluntate mea constitutus est se
eleuare contendit, et ubi quidam in diversis signis vestitus sui se volunt dilatare secundum mores suos
quemadmodum in insania sua cogitant, veluti si ordo angelorum se erigere vellet super ordinem archange-
lorum. Vgl. generell Tilo Altenburg, Soziale Or dnungs vor Stellungen bei Hildegard von Bingen
(Monographien zur Geschichte des Mittelalters 54), Stuttgart 2007.
 
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