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Keupp, Jan; Schneidmüller, Bernd [Bibliogr. antecedent]; Weinfurter, Stefan [Bibliogr. antecedent]
Die Wahl des Gewandes: Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters — Mittelalter-Forschungen, Band 33: Ostfildern, 2014

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https://doi.org/10.11588/diglit.34735#0196

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196

II. Angebot und Auslegung: Politik im Zeichen der Kleidung

soziale Konvenienz zugleich: »Der Widerwille gegen eine situierte Rolle ist das
Ergebnis des Respekts für eine andere Identifizierungsbasis«, so beschrieb der
Soziologe Erving Goffman die Korrektur sozialer Erwartungen durch demonstra-
tiv gezeigte >Rollendistanz<203. Indem der Kaiser tränenreich von seinem früheren
Strafbefehl abrückte, näherte er sich zugleich dem Erwartungshorizont seiner
geistlichen Kritiker an. Der temporäre Insignien ver zieht kann als Bitte Ottos
gedeutet werden, die vergangenen Verfehlungen »als Quellen zur Definition seiner
Person«204 zu tilgen und eine zukünftige Ausrichtung an den Idealen einer christo-
mimetischen Herrschaftsführung zu akzeptieren. Die zur Durchsetzung einer sol-
chen »Vorwärtsstrategie der Identitätsdarstellung«205 erforderliche Definitions-
macht gewährte dem Kaiser nicht zuletzt das Renommee seiner spirituellen
>Seelenführer< Romuald und Nilus206. Ihr Segen vermochte das Fundament sakraler
Amtsautorität in einer prekären Situation nachhaltig zu stabilisieren. Allerdings
wäre es falsch, die Bußwallfahrt Ottos III. als vordergründige Frömmigkeitsfassade
entlarven zu wollen und die Demütigung als sublime Technik der Meinungsma-
nipulation zu diskreditieren. Goffmans Konzept der Rollendistanz formuliert
weder eine »Soziologie des Betrugs«207, noch thematisiert es eine bloße Imitation
signifikanter Rollenmerkmale. Vielmehr geht es davon aus, daß jede Person »an
einem Gefüge von Rollen teilnimmt«, das situativ in eine neue Balance gebracht
werden kann208. Die individuelle Fähigkeit zur Rollendistanz bedarf stets der Selb-
stidentifikation mit einem alternativen, auf gesellschaftlichen Erwartungen basie-
renden Rollenschema. Strafbefehl und Bußbereitschaft Ottos III. schließen sich
aus dieser Perspektive keineswegs gegenseitig aus. Sie verweisen lediglich auf den
Zwiespalt zweier Ordnungssysteme, den der Kaiser im Akt der Selbstdevestitur
souverän gleichermaßen zugunsten seines ewigen Heils und seiner irdischen
Herrschaft aufzulösen verstand.
»Der König demütigte sich - und steigerte damit seine Autorität noch mehr«209:
Dieses Motiv läßt sich in vielfältigen Variationen in der politischen Praxis des

203 Erving Goffman, Rollendistanz, in: Ders., Interaktion: Spaß am Spiel, Rollendistanz, München
1973, S. 93-171, S. 160. Vgl. einführend Robert Hettlage, Rahmenanalyse - oder die innere Or-
ganisation unseres Wissens um die Ordnung der sozialen Wirklichkeit, in: Erving Goffman -
ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, hrsg. von dems./Karl Lenz, Bern 1991,
S. 95-154; Heinz Abels, Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative
Theorien der Soziologie, Wiesbaden 1998, S. 153-195.
204 Goffman, Rollendistanz, S. 118.
205 Abels, Identität, S. 330.
206 Zum Begriff des Seelenführers vgl. Seibert4 Herrscher, S. 230.
207 Alvin W. Gouldner, Die westliche Soziologie in der Krise, Reinbek 1970, S. 460.
208 Goffman, Rollendistanz, S. 101: »Während das Individuum offensichtlich an einem Gefüge von
Rollen teilnimmt, besitzt es die Fähigkeit, sein Engagement für andere Schemata in der Schwebe
zu halten; es erhält so eine oder mehrere ruhende Rollen aufrecht, die bei anderen Gelegenhei-
ten ausgeübt werden.«
209 So Stefan Weinfurter, Heinrich II. Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 1999, S. 258, zum
interessanten Fall der Prostration Heinrichs II. auf der Frankfurter Synode 1007, vgl. ähnlich
dazu auch Ders., Das Demutsritual als Mittel zur Macht: König Heinrich II. und seine Selbst-
erniedrigung 1007, in: Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, hrsg. von Claus Ambos/
Stephan Hotz/Gerald Schwedler/dems., Darmstadt 2005, S. 45-50; Gerd Althoff, Demonstra-
tion und Inszenierung. Spielregeln der Kommunikation in mittelalterlicher Öffentlichkeit, in:
Ders., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Friede und Fehde, Darmstadt
1997, S. 229-257, S. 253f.
 
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