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B.I. Der Idealtypus? - der Fall,Judith1
Radbert als Ausdruck einer verhängnisvollen Komplizenschaft. Während sich
der Zorn der Aufständischen 830 vor allem gegen Bernhard und seine Familie
richtete, zeigt das erneute Vorgehen gegen Judith zwei Jahre nach ihrer Rück-
kehr, dass die erzwungene Flucht des Kämmerers keineswegs die Ordnung
wiederhergestellt hatte, die von den Teilnehmern des ersten Aufstands ange-
strebt worden war.
Bei der Frage nach den Zielen und Motiven der Rebellen konnten fünf
Schlüsselereignisse ausgemacht werden, die das politisch-soziale Gefüge am
Kaiserhof nachhaltig veränderten und die von den zeitgenössischen Quellen -
mit unterschiedlicher Gewichtung - als Hintergrundereignisse des Aufstands
von 830 thematisiert werden: die Thronfolgeordnung von 817, Ludwigs zweite
Heirat 819, die Geburt Karls 823, der gescheiterte Septimanienfeldzug samt
Folgen 827/828 sowie die Wormser Reichsversammlung von 829. 817 hatte
Ludwig sein Haus geordnet, indem er die künftigen Beziehungen seiner drei
Söhne aus der Ehe mit der Kaiserin Irmingard so regelte, dass nur Lothar ihm im
Kaisertum folgen sollte. Die jüngeren Brüder Pippin und Ludwig würden ihm
als Könige ihrer jeweiligen regnci untergeordnet sein. Obschon die ,Ordinatio
imperii' mit Ausnahme der Mitkaisererhebung Lothars eine Regelung für die
Zeit nach Ludwigs Tod darstellte, hatte sie sofortige Bedeutung für das Ver-
hältnis der Brüder, die bis dahin einander gleichgeordnet gewesen waren.
Dass die Kaiserin Irmingard im Folgejahr sterben und Ludwig kurz darauf
erneut heiraten würde, konnte 817 niemand ahnen. Die Entscheidung, die der
Kaiser nach Irmingards Tod traf, hat vor allem in der Retrospektive Bedeutung
erlangt, doch jede Heirat eines Herrschers verändert die Strukturen seines Hofes
unmittelbar. 819 war dieser Effekt verstärkt, denn Judiths Familie gehörte bis
dahin keineswegs zu denen, die bis dahin mit dem Kaiser zusammen die Ge-
schicke des Reiches bestimmt hatten.
Am 13. Juni 823 brachte Judith ihrem Mann einen vierten Sohn zur Welt, für
dessen Interessen sie sich von da an einsetzte. Mit der ,Ordinatio imperii' hatte
Ludwig 817 die Thronfolge in seinem Reich auf seine drei Söhne von der Kaiserin
Irmingard und deren legitime männliche Nachfahren beschränkt. Mit Karls
Geburt Karls eröffnete sich eine Alternative, die die ,Ordinatio' gefährden
konnte. Vor diesem Hintergrund muss die aktive Beteiligung Lothars an der
Gesamtherrschaft als Bestätigung und schrittweise Inkraftsetzung der ,Ordina-
tio' verstanden werden, die dazu diente, den Mitkaiser in eine Herrschaftsbe-
teiligung seines kleinen Stiefbruders einzubinden bzw. ihn für seine eigenen
Verluste zu entschädigen.
Die frühzeitige Umsetzung dieses Mitkaisertums ging zu Lasten Pippins von
Aquitanien und Ludwigs des Deutschen, die an einer Überordnung ihres älteren
Bruders zu Lebzeiten des Vaters kein Interesse haben konnten. Insbesondere für
den aquitanischen König verschlechterte sich die Lage dramatisch, als ein unter
seiner Führung stehender Feldzug gegen aufständische Bewohner der spani-
schen Mark beinahe zum Desaster wurde. Zugleich ging bei der Belagerung
Barcelonas der Stern des Grafen Bernhard auf, während der der Grafen Hugo
und Matfrid, die beide Anhänger Lothars waren, rapide zu sinken begann. Im
Folgejahr 828 wurden sie ihrer Ämter enthoben, weil ihnen die Schuld am
B.I. Der Idealtypus? - der Fall,Judith1
Radbert als Ausdruck einer verhängnisvollen Komplizenschaft. Während sich
der Zorn der Aufständischen 830 vor allem gegen Bernhard und seine Familie
richtete, zeigt das erneute Vorgehen gegen Judith zwei Jahre nach ihrer Rück-
kehr, dass die erzwungene Flucht des Kämmerers keineswegs die Ordnung
wiederhergestellt hatte, die von den Teilnehmern des ersten Aufstands ange-
strebt worden war.
Bei der Frage nach den Zielen und Motiven der Rebellen konnten fünf
Schlüsselereignisse ausgemacht werden, die das politisch-soziale Gefüge am
Kaiserhof nachhaltig veränderten und die von den zeitgenössischen Quellen -
mit unterschiedlicher Gewichtung - als Hintergrundereignisse des Aufstands
von 830 thematisiert werden: die Thronfolgeordnung von 817, Ludwigs zweite
Heirat 819, die Geburt Karls 823, der gescheiterte Septimanienfeldzug samt
Folgen 827/828 sowie die Wormser Reichsversammlung von 829. 817 hatte
Ludwig sein Haus geordnet, indem er die künftigen Beziehungen seiner drei
Söhne aus der Ehe mit der Kaiserin Irmingard so regelte, dass nur Lothar ihm im
Kaisertum folgen sollte. Die jüngeren Brüder Pippin und Ludwig würden ihm
als Könige ihrer jeweiligen regnci untergeordnet sein. Obschon die ,Ordinatio
imperii' mit Ausnahme der Mitkaisererhebung Lothars eine Regelung für die
Zeit nach Ludwigs Tod darstellte, hatte sie sofortige Bedeutung für das Ver-
hältnis der Brüder, die bis dahin einander gleichgeordnet gewesen waren.
Dass die Kaiserin Irmingard im Folgejahr sterben und Ludwig kurz darauf
erneut heiraten würde, konnte 817 niemand ahnen. Die Entscheidung, die der
Kaiser nach Irmingards Tod traf, hat vor allem in der Retrospektive Bedeutung
erlangt, doch jede Heirat eines Herrschers verändert die Strukturen seines Hofes
unmittelbar. 819 war dieser Effekt verstärkt, denn Judiths Familie gehörte bis
dahin keineswegs zu denen, die bis dahin mit dem Kaiser zusammen die Ge-
schicke des Reiches bestimmt hatten.
Am 13. Juni 823 brachte Judith ihrem Mann einen vierten Sohn zur Welt, für
dessen Interessen sie sich von da an einsetzte. Mit der ,Ordinatio imperii' hatte
Ludwig 817 die Thronfolge in seinem Reich auf seine drei Söhne von der Kaiserin
Irmingard und deren legitime männliche Nachfahren beschränkt. Mit Karls
Geburt Karls eröffnete sich eine Alternative, die die ,Ordinatio' gefährden
konnte. Vor diesem Hintergrund muss die aktive Beteiligung Lothars an der
Gesamtherrschaft als Bestätigung und schrittweise Inkraftsetzung der ,Ordina-
tio' verstanden werden, die dazu diente, den Mitkaiser in eine Herrschaftsbe-
teiligung seines kleinen Stiefbruders einzubinden bzw. ihn für seine eigenen
Verluste zu entschädigen.
Die frühzeitige Umsetzung dieses Mitkaisertums ging zu Lasten Pippins von
Aquitanien und Ludwigs des Deutschen, die an einer Überordnung ihres älteren
Bruders zu Lebzeiten des Vaters kein Interesse haben konnten. Insbesondere für
den aquitanischen König verschlechterte sich die Lage dramatisch, als ein unter
seiner Führung stehender Feldzug gegen aufständische Bewohner der spani-
schen Mark beinahe zum Desaster wurde. Zugleich ging bei der Belagerung
Barcelonas der Stern des Grafen Bernhard auf, während der der Grafen Hugo
und Matfrid, die beide Anhänger Lothars waren, rapide zu sinken begann. Im
Folgejahr 828 wurden sie ihrer Ämter enthoben, weil ihnen die Schuld am