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Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 5.1931

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Gantner, Joseph: Die Situation
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https://doi.org/10.11588/diglit.17293#0134

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DIE SITUATION

Es iff gut, die Dinge in ihrer Gefamtheit und aus der Diftanz zu
(ehen. Das einzelne Objekt, das in unfern Publikationen (o (tark
hervortritt, verwirrt allzu leicht den Blick, ebenfo wie die Befchäfti-
gung mit den einzelnen Gebieten, denen wir normalerweile unlere
Hefte widmen. So (ei der Querfchnitt diefes Heftes die Veranlaf-
fung, die Frage nach der Befonderheit der heutigen Situation
wieder einmal grundfäfjlich aufzurollen. Dabei treten zwei Beiträge
in den Vordergrund: die Ausfchnitte aus einer Bilderfolge zum
ruffifchen Fünfjahresplan, die wir El Lissitjky verdanken, und der
Nachruf auf Theo van Doesburg. In diefen zwei Beiträgen find fo-
zufagen die Endpunkte derjenigen Entwicklungsetappe enthalten,
in der [ich das neue Bauen fowohl wie alle mit ihm verflochtenen
Künfte und Geftaltungsprozeffe heute befinden. Sehen wir etwas
näher zu.

I.

Walter Dexels Nachruf auf Theo van Doesburg führt uns
zurück in die erfte Etappe der Bewegung, in die Zeit, in der die
fchöpferifchen Menfchen, da fie keine Aufträge hatten, mit heilen
Manifelten hervortraten und fo den Boden vorbereiten halfen,
auf dem dann die grofjen Realilierungen, und nicht zuletjt Ernft
Mays Frankfurter Bautätigkeit, erft möglich geworden find. Wie
rafch wandeln lieh doch unfere Augen! Die Dinge von damals
lehen felbft für den, der lie miterlebt hat, heute fchon beinahe
hifforifch aus. Innenräume wie Doesburgs nur vier Jahre alte
„Aubette" in Strasburg (f. S. 105) würde kein moderner Architekt
mehr machen, ohne dafj ihm der Vorwurf des Formalismus ficher
wäre. Sehen diefe Doesburgfchen Wandauffeilungen nicht aus,
als wären Bilder von Piet Mondrian auf die Mauer übertragen
worden? Man erinnert fich auf einmal, wie eng doch die Anfänge
des neuen Bauens, an denen gerade Doesburg fo ftarken Anteil
hat, mit der abftrakten Malerei verbunden waren! Und man ver-
fteht: das Bauen war, trotj aller Manifefte, im wefentlichen noch
ein formaläfthetifches Problem und bedurfte eines fehr durch-
greifenden Reinigungsprozeffes, um das zu werden, was im Grunde
die Endabficht der ganzen Bewegung ift: ein wirtfehaftlich- foziales
Inftrument.

Allerdings — im Verlaufe diefes Reinigungsprozeffes haben gerade
die mittleren und kleineren Talente fozufagen unterwegs haltge-
macht. Es ift grauenerregend, was heute landauf landab alles unter
der Flagge „modernes Bauen" geht! Sind die Formen nicht bei-
nahe fchon zu einer Art Allerweltsjargon geworden, den jeder
Baugewerkfchüler bald fo, bald anders, aber immer mit dem An-
fpruch auf fogenannte „Modernität" verwendet? Natürlich hat jede
Generation die Neigung, einen nur ihr eigenen „Stil" auszubilden,
der von Hand zu Hand, und nicht nur in die ftarken Hände, weiter-
gegeben werden kann. In einem folchen Stilbildungsprozefj ftehen

wir heute mitten drin, und es war vielleicht niemals nötiger als
gerade heute, auf die wirklichen Ziele der grofjen Umwertung
hinzuweifen. Denn es droht die Gefahr, dah nicht nur die mittleren
und kleineren Kräfte mit ihrer moderniltilchen Surrogat-Architektur
überhandnehmen, fondern vor allem auch, dah die Öffentlichkeit,
die eine Zeitlang dem Umbildungsprozeh mit fo grofjer Begeife-
rung gefolgt ift, unter dem Einflufj der leider fo ahnungslofen
grofjen Preffe fich an diefe Surrogat-Architektur hängt und völlig
überfieht, wie ftark die Entwicklung unterdellen weitergegangen ift!
An diefem Punkte einer vorübergehenden Verunklärung ftehen
wir heute, und es ift gewifj, dafj die grofje Berliner Bau-Aus-
Heilung, die am 9. Mai eröffnet worden ift, indem Fortgangdiefer
Ideen eine wahrhaft hiftorifche Miffion zu erfüllen haben wird.

II.

Im Zufammenhang diefes Heftes bedeuten die Bilder aus dem
ruffifchen Fünfjahresplan,die wir unter zwei Gefichtspunk-
ten angeordnet haben, den Hinweis auf den andern Pol. Wir haben
abfichtlich, mit Ausnahme des Bildes auf der erften Seite, die
Architektur aus dem Spiel gelaffen, denn jeder Kenner der Ver-
hältniffe weifj, dafj, wenn man das Befolgen eines Stil - Rezeptes
als Formalismus bezeichnen darf, kaum ein Volk in feinen Bau-
Projekten formaliftifcher ift als das ruflifche, wo in den Ateliers
alte und neue Ideen von Le Corbufier geradezu als Scheidemünze
kurfieren. Auch in diefer Hinficht wird Ernft May eine gewaltige
Aufgabe zu löfen haben! Im übrigen fcheint es tatfächlich, dafj
auch in Rufjland, genau wie vor zehn Jahren bei uns, neue Ideen
auf dem Gebiete der fogenannten bildenden Künfte rafcher zum
Ziele führen als im Bauen, das ja mit viel gröfjeren materiellen
Hemmniffen zu kämpfen hat.

Jedes Kind weih, was der Fünfjahresplan bedeutet, und die Zeit
kommt, wo das „Neue Frankfurt" von feinen zahlreichen Feinden
nicht mehr als „bolfehewiftifches Kampfblatt" angeprangert wird,
weil es, wie in diefer Nummer, verfucht, den Dingen ins Geficht
zu fehen und (eine Le(er über die neuen Ideen von überallher
zu informieren! Man mag nun zu den rudilchen Arbeiten, befon-
ders auf dem Gebiete der Künfte, des Theaters, des Films, ftehen,
wie man will — foviel ift gewifj, dafj dort die Dinge vom andern
Ende her angepackt werden, dafj nicht, wie bei uns, die Umwand-
lung der Form den Anftofj gab, fondern die Umwandlung des
Objekts. Malerei und Plaftik ftehen nicht unter dem Diktate
einer neuen äfthetifchen Doktrin, fondern des Fünfjahresplanes,
d. h. fie find reftlos das geworden, was bei uns aus verwandten
Bezirken einzig die Fotografie werden will, angewandte Kunft.
Ebenfo das Theater; ebenlo der Film, ebenfo fchliefjlich das Bauen !
Es unterliegt gar keinem Zweifel, dafj die Entwicklung bei uns in
andern Formen vor fich gehen wird, da ja völlig andere Voraus-
fetjungen zugrunde liegen. Aber eines ift im Verlaufe der fchreck-

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