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Peust, Carsten
Das Napatanische: ein ägyptischer Dialekt aus dem Nubien des späten ersten vorchristlichen Jahrtausends ; Texte, Glossar, Grammatik — Göttingen, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.31318#0089

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-84 -

7 Grundsätzliches zum Schriftsystem
7.1 Zeicheninventar und Graphembegriff

Der hieroglyphische Zeichenbestand wird traditionell in Zeichenlisten erfasst (die klassische Liste bei Gardiner
1957: 438-548; daneben Hannig 1995: 1025-1182 mit derselben Numerierung, zusätzlichen Zeichen, dafür knapperen
Funktionsbeschreibungen). Allerdings gibt es bislang keine explizite Diskussion über die Kriterien, nach denen das
ägyptische Zeicheninventar bestimmt werden sollte. Die Frage, “wieviele” Hieroglyphen es gibt, ist nämlich nicht
trivial zu beantworten. Rein formale Kriterien genügen schon aus dem Grunde nicht, weil sich im Ägyptischen wie in
allen manuellen Schriften zwei konkrete Zeicheninstanziierungen niemals völlig gleichen. Es liegt prinzipiell das
gleiche Problem vor wie bei der Frage, wieviele “Laute” eine gegebene Sprache hat. So wie es bei der Beschreibung
einer Sprache häufig sinnvoll ist, gerade solche Laute zu differenzieren, die Bedeutungen unterscheiden können
(Phoneme), kann eine entsprechende Differenzierung des Zeicheninventars in Grapheme wertvoll sein.
Ein Graphem wäre somit als die kleinste bedeutungsunterscheidende graphische
E i n h e i t innerhalb eines Schriftsystems zu definieren. Zwischen zwei Zeicheninstanziierungen bestünde genau
dann ein graphematischer Unterschied, wenn sie sowohl einen Form- wie einen Funktionsunterschied aufweisen. Man
erkennt leicht, dass der Klassifikation in Gardiners Zeichenliste kein solcher Graphembegriff zugrunde liegt:
• Differenzierungen in Form und Funktion werden zuweilen übergangen, wenn sie geringen Ausmaßes sind und
bisher in der Forschung noch nicht genügend untersucht wurden. Beispielsweise setzt Gardiner (1957: 438) nur
eine einzige Hieroglyphe A22 (Determinativ “Statue”) an, obwohl “the sign (...) is apt to change sex, head-
gear, dress and accoutrements according as the context or the scribe’s fancy may dictate”. Ebenso registriert er
ein einziges Zeichen Ei (Logogramm und Determinativ “Rind”), obwohl “[t]he sign is apt to vary in form
according to the sex and species demanded in the particular case” (Gardiner 1957: 458). Hier geben die Form-
unterschiede Hinweise auf die Natur des betreffenden Gegenstandes, drücken also einen Bedeutungsunterschied
aus, wenn auch nicht notwendigerweise einen solchen, der sich auf der phonemsprachlichen Lexemebene
niederschlüge. Wenn Gardiner hier trotzdem auf eine Differenzierung verzichtet, so wohl deswegen, weil ihm
unklar geblieben ist, inwieweit die Zeichenvariationen einer endlichen Zahl diskreter Klassen zugeordnet
werden können. Der Verzicht auf Differenzierung beruht hier also schlicht auf einer Forschungslücke.
• Geht eine Formverschiedenheit nicht mit einem erkennbaren Funktionsunterschied einher, so wird manchmal
dennoch eine Zeichendifferenz angesetzt, ohne dass dabei eine besondere Konsequenz erkennbar wäre. Bei-

W17 und

W18, die sich in
N35,

spielsweise bilden in Gardiners Zeichenliste die funktionsgleichen Zeichen
der Anzahl der Krüge unterscheiden, unterschiedliche Einträge. Andererseits wird von dem Zeichen
in dem die Anzahl der Zacken ebenfalls variieren kann, nur eine Normalform berücksichtigt.
Formunterschiede, die nicht mit Funktionsunterschieden einhergehen, hat Gardiner häufig sogar dann unter
jeweils eigenen Nummern aufgenommen, wenn die betreffenden Formvarianten diachron verteilt sind und nie
innerhalb ein und desselben Textes miteinander kontrastieren. So finden wir als Phonogramm <g> die Form S
W12 des Alten Reiches neben der späteren Form © W11, als Phonogramm <nw> die Form U20 des Alten
Reiches neben der späteren Form U19, als Phonogramm <sn> die klassische Form
T23 des Neuen Reiches.

T22 neben der Form

Eine Liste von Graphemen ist Gardiners Zeichenliste also keineswegs und daher für strukturalistische Untersuchun-
gen des Schriftsystems nicht ohne weiteres verwendbar. Dagegen ist die Liste für die philologische Beschäftigung mit
Texten durchaus nützlich, und für diesen Zweck ist sie ja auch geschrieben. Hier ist es nämlich nicht unsinnig, auch
subgraphematische Zeichendifferenzen zu berücksichtigen, die keinen erkennbaren Funktionsunterschied zum Aus-
druck bringen. Auch in dieser Arbeit habe ich dies so gehandhabt und übernehme nicht nur Gardiners Differenzierun-
gen, sondem füge noch eine Anzahl von Zeichenformen hinzu, die in den üblichen Hieroglypheninventaren nicht vor-
gesehen sind. Vor allem zwei Gründe sprechen für dieses Vorgehen:
• Nahezu alle ägyptischen Texte enthalten schwierige und unverstandene Passagen. Die Forschungsgeschichte hat
gezeigt, dass hier häufig fehlerhafte Lesungen einzelner Zeichen vorliegen. Wenn nun der Bearbeiter durch eine
stark reduktionistische Analyse alle seiner Auffassung nach subgraphematischen Züge aus seiner Textpräsenta-
tion entfernt, den Text somit einem starken Normalisierungsprozess unterzieht, erschwert er damit für nach-
folgende Forscher die Möglichkeit, Lesungen zu korrigieren.
• Ägyptische Graphemoppositionen, so wie Graphemoppositionen in von Hand geschriebenen Schriften generell,
können in unterschiedlicher Deutlichkeit markiert und in geeigneten Kontexten mehr oder weniger aufgehoben
 
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