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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 8
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Walden, Herwarth: Sowjet-Russland
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0115

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sich seiner Haut zu wehren, so gut es gehen
würde. Am nächsten Morgen fuhr man drei-
ßig Kilometer weit von Moskau fort und kam
auf einem hübsch gelegenen Landsitz an, der
einem Mitglied sogar als Betätigungsfeld aus
seinem Beruf bestens bekannt war. Er wun-
derte sich nur darüber, daß sämtliche Stein-
mauern und Gitter mit Stacheldraht recht un-
vorsichtig völlig entfernt waren. Auch Sol-
daten und Wächter waren nirgends zu sehen,
was das Mißtrauen erheblich steigerte. Selbst
Hunde waren nicht vorhanden. Nur einige
Katzen spielten im Garten und außer dem
Obermenschenfresser Dserjinsky waren nur
zwei jüngere Leute anwesend, die als Ob-
jekte für oder zur Gewalttätigkeit nicht ge-
eignet erschienen. Jeder einzelne von der
Verbrecherkolonie könnte spielend mit zehn
von denen aufnehmen.
Da die Sache scheinbar ziemlich ungefähr-
lich aussah, beschloß man zu bleiben. Es
war ihnen auch für die Folge nicht möglich
festzustellen, worin der sozialistische Betrug
bestand. Sie hatten anständige Betten. Zwar
nicht jeder ein einzelnes Zimmer wie der
Schokoladenfabrikant. Der hat aber in weiser
Voraussicht seine Zimmer bereits so groß
gebaut, daß zwanzig Menschen bequem in
einem Zimmer schlafen konnten. Das Essen
war gut und billiger als in Moskau. Die Ma-
schinen waren da und der eine junge Mann
zeigte ihnen ohne jede Schimpferei die Hand-
griffe. Einige kannten sie. Die begannen so-
fort zu arbeiten. Die anderen sahen sich eine
Weile die Sache an, und da die Maschinen
kein Gift spuckten und sich ganz normal be-
nahmen, gingen die übrigen auch ans Werk.
Nur etwa sieben zogen es vor, sich erst
noch einmal nach ihrem alten Beruf in Mos-
kau umzusehen und waren recht erstaunt, daß
man sie tatsächlich ziehen ließ. Nach acht-
stündiger Arbeit, unterbrochen von einer ein-
stündigen Mittagspause, sah man sich die Na-
tur etwas an. Nach einer weiteren Stunde
wurden sie von dem anderen jungen Mann

freundlichst eingeladen, in den Klub zu kom-
men. Man setzte sich in einem Raum zu-
sammen, den man früher als Salon zu be-
zeichnen pflegte. Der junge Mann schlug
ihnen ein Programm für die Abende vor,
wie es sich für jeden anständigen Klub ge-
hört. An drei Abenden beschloß man, sich
die Künste anzueignen, die die Möglichkeit
zur alleinigen Beschäftigung geben. Lesen
und Schreiben. Die es schon konnten, fanden
eine eigene Bibliothek. Wenn ihnen die vor-
handenen Bücher nicht gefielen, konnten sie
sich andere Bücher bestellen. Am vierten
Abend beschloß man, Musik zu machen, am
fünften Abend Theater zu spielen, am sechsten
Abend Vorträge zu halten und zu diskutieren.
Im Sommer trieb man an diesen drei Aben-
den Sport. Die sich für besondere Dinge in-
teressierten, wie Landwirtschaft, Technik und
Politik, taten sich zu besonderen Zirkeln zu-
sammen, um sichs weiter auszubilden. Die
Bauern des Dorfes betrachteten diese Kolo-
nie mit höchstem Mißtrauen. Sie wandten
sich sogar an die Regierung mit der Bitte,
die Kolonie aus ihrem Dorf zu entfernen. Die
Regierung tat das, was sie überall bei Ein-
gaben zu tun pflegt: sie lehnte ab. In der
Fabrik wurde eifrig gearbeitet. Fast keiner
begnügte sich mit dem monatlichen Grund-
lohn von dreißig Rubeln. Durch Akkordar-
beit und durch Stücklohn werden monatlich
siebzig bis zweihundert Rubel verdient. Die
Abendeftirden einfachen Schulunterricht wur-
den schon nach wenigen Monaten frei und
für wissenschaftlichen Unterricht und theo-
retische Berufsfortbildung verwandt. Die Ko-
lonisten gründen mit ihrem ersparten Geld
eine Konsumgenossenschaft, der die Regie-
rung im Anfang Kredit gibt. Auch die Bau-
ern fangen an dort einzukaufen, da die Waren
billiger als im Dorfe sind und größere
Auswahl vorhanden ist. Man hat sich mit
der Kolonie ausgesöhnt, die ihre Freizeit von
Sonnabend mittag bis Montag früh im Dorf
verbringt. Nach anderthalb Jahren haben sich
bereits zwanzig Bauerntöchter mit Kolonisten

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