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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 8
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Walden, Herwarth: Sowjet-Russland
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0116

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und mit Zustimmung der Eltern verheiratet.
Die Kolonie soll vergrößert werden. Die Auf-
träge häufen sich, die Fabrik muß erweitert
werden. Man braucht neue Menschen. Die
jährliche Generalversammlung der Kolonie er-
hält von der Regierung die Erlaubnis, Dele-
gierte zu wählen, die aus den Gefängnissen
neue Genossen für die Arbeiterkommune aus-
suchen darf. Auch neue Wohnhäuser werden
gebaut. Der Klub ladet sich Künstler für die
Abende ein, die von ihm honoriert werden.
Sie sehen und hören Neues und lernen, wie
sie sich selbst künstlerisch fortbilden können.
Konflikte, die selbstverständlich vorkommen,
werden von einer Konfliktkommission aus
ihren Kreisen geschlichtet. Die Strafen be-
stehen in Rügen, Lohnabzug und Verbot der
Reise nach Moskau über Sonntag. In kurzer
Zeit soll die Kolonie jetzt bis auf tausend
Mitglieder erweitert werden. Und das neue
große Ereignis wird auf der wöchentlich
zweimal erscheinenden geschriebenen Wand-
zeitung mitgeteilt: man wird Frauen und
Mädchen aufnehmen. In der Wandzeitung
wird erklärt, die Kolonie sei so weit fort-
geschritten, daß sie den Versuch unterneh-
men könne, Arbeit und Kultur den gefange-
nen Frauen beizubringen, die ihrerseits wie-
der durch die Eigenschaften der Frau den
Männern helfen sollen.
Eine Fabrik für Strickwaren ist bereits einge-
richtet, ein reichsdeutscher Meister als Leh-
rer angestellt. Er hat vorläufig nur eine
Angst, wie er die teueren Rohstoffe vor Dieb-
stahl schützen soll. Ein Kolonist beruhigt
ihn, hier bestiehlt man nur sich selbst. Wer
am Anfang zum Beispiel seine Schlafdecke
stahl und verkaufte, bekam einfach keine neue
geliefert. Er mußte also sich seine Decke
zurückkaufen, falls er nicht frieren wollte.
Wer seine Rohstoffe verkauft, kann eben
nicht arbeiten, verdient also kein Geld. Außer-
dem kann ihn die Kolonie auf ihren Be-
schluß ausstoßen. Das Gefängnis nimmt ihn
nicht wieder auf, weil er frei ist und die
Verbrecher verachten die Kolonisten

Strafvollzug
Die Justiz in der USSR ist eine bewußte Klas-
senjustiz. Der Staat wird stets eine Organi-
sation der herrschenden Klasse sein. Seine
Verfassung und seine Gesetzgebung ist die
Feststellung der tatsächlichen Machtverhält-
nisse. Die deutsche Republik gestattet der
Justiz, die Beziehungen der gegenwärtigen
Menschen nach einer vergangenen Machtpe-
riode zu beurteilen und zu verurteilen. Diese
Methode ist noch weniger objektiv als die
Klassenjustiz. In der USSR sah man die ro-
mantische Ideologie der akademischen Rich-
ter voraus, man nahm ihnen die Macht und
setzte Volksgerichte ein. Sie bestehen zu 90
Prozent nur aus Laien, erst bei den obersten
Gerichten befinden sich auch Berufsjuristen,
wesentlich mit beratenden Funktionen. Auch
der Strafvollzug ist nach neuen Grundsätzen
geregelt. Man geht davon aus, die Verurteil-
ten zu werktätigen Mtigliedern der Gesell-
schaft zu erziehen und sie hierfür durch die
nötigen Kenntnisse und Mittel vorzubereiten.
Man übersieht, daß der größte Teil von Ei-
gentumsvergehen aus Not und ein großer
Teil anderer Vergehen durch schlechte Ein-
flüsse entstanden ist. Das strengste Zucht-
haus in der USSR ist die Isolieranstalt in
Lefortowo bei Moskau. Ein früheres Mili-
tärzellengefängnis, in dem sich zurzeit 451
Gefangene befinden. Hier sind die schwersten
Verbrecher untergebracht, von denen viele zu
der höchst zulässigen Strafe von zehn Jah-
ren Zuchthaus verurteilt worden sind. Todes-
strafe existiert nur für politische Verbrechen
und Spionage, die nur durch den Sonderge-
richtshof der OGPU, der zentralen politi-
schen Verwaltungsbehörde der Union ver-
hängt wird. Aeußerlich der übliche Zucht-
hausapparat. Besichtigung nur mit Genehmi-
gung des Volkskommissariats für innere An-
gelegenheiten. Wächter mit Gewehren bewalf-

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