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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 8
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Walden, Herwarth: Sowjet-Russland
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0118

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Wasser verabreicht. Tee kaufen sich die Ge-
fangenen selbst in der Kantine. Das Essen
wird außerordentlich hygienisch in Kupferkes-
seln zubereitet. Das Eßgeschirr besteht aus
Aluminium. Das Essen ist schmackhaft, wo-
von ich mich selbst überzeugt habe. Die
Gefangenen können nach ihrem Belieben in
ihren Zellen einzeln oder gruppenweise es-
sen. Das Gefängnis hat eigene Krankenzim-
mer, ein Ambulatorium und ein Zahnheilin-
stitut. Auf die Pflege und Erhaltung der
Zähne wird von der Gefängnisleitung beson-
deres Gewicht gelegt. Seit einigen Monaten
werden alle Zellen mit Radioapparaten ein-
gerichtet. In der Hälfte der Zellen sind sie
bereits in Betrieb. Strafen für Schlägereien,
Beschimpfungen und tätliche Angriffe gegen
die Wachen bestehen in sieben Tage Iso-
lierhaft, also Verweigerung der Arbeit und
des entsprechenden Lohnes. Diese Haft darf
höchstens auf weitere sieben Tage ausge-
dehnt werden. Eine weitere Strafe ist die
Entziehung des Spaziergangs für je zwei Tage.
Bei außerordentlichem, tobsuchtartigem Be-
tragen darf bis zur Beruhigung eine Zwangs-
jacke angewandt werden. Bei der Anlegung
muß eine Kommission von neun Personen an-
wesend sein, zu der der Gefängnisleiter, der
Gefängnisarzt und einige Gefangene gehören
müssen. Diese Strafe brauchte in dem letzten
Jahr nicht einmal verhängt zu werden. Die
Gefangenen haben vollkommenes Beschwerde-
recht, auch gegen die Gefängnisleitung. Sie
ist verpflichtet, jede schriftliche Beschwerde
der vorgesetzten Behörde zu übergeben. Der
Staatsanwalt ist nicht nur Ankläger, nach der
Verurteilung ist er Verteidiger der Verurteil-
ten. Er ist verpflichtet, sich jede Woche in
das Gefängnis zu begeben und mit jedem Ge-
fangenen persönlich zu sprechen. Schon da-
durch ist es ausgeschlossen, daß Beschwerden
unterschlagen werden können. Die Gewinne
aus der Arbeit der Gefangenen müssen zum
Teil für die Verbesserung der Werkstätten
und neue Anlagen verwandt werden. Die Ge-

fängnisleitung klagt nur über Raummangel.
Das Haus ist ja für diese Art des Strafvoll-
zugs nicht gebaut worden. Man hat bereits
die Keller zu Arbeitsräumen umgewandelt. Es
muß gegenüber Gerüchten festgestellt Wer-
dern, daß dem Besucher alles gezeigt, jede
Tür geöffnet und jede Frage beantwortet wird.
Es ist auch gestattet, mit jedem Gefangenen
einzeln und ohne Zeugen zu sprechen.
Das ist das Leben in der strengsten Strafan-
stalt. In den übrigen Gefängnissen gibt es
noch weitere, pädagogisch beachtenswerte Er-
leichterungen. So erhalten die Gefangenen,
die Angehörigen haben die Erlaubnis, von
Sonnabend mittag bis Montag früh ihre An-
gehörigen zu besuchen und sich bei ihnen
aufzuhalten. Arbeitende Gefangene mit mehr-
jährigen Strafen erhalten jährlich vierzehn
Tage Erholungsurlaub mit kostenloser Un-
terbringung in ein Erholungsheim. Hart-
näckige. nichtbesserungsfähige Gefangene
werden nach Abbüßung der Strafe nach be-
stimmten Kolonien Sibiriens verbannt. Sie
leben dort frei, dürfen nur die Kolonie nicht
verlassen.
Man übernimmt soviel aus dem Ausland.
Hier in der USSR ist eine praktisch erprobte
Methode des Strafvollzugs gefunden, die den
größten Teil der Gefangenen zu nützlichen
und sogar zu qualifizierten Mitgliedern der
Gesellschaft macht, das soziale Unrecht der
Gesellschaft an Individuen sühnt und außer-
dem den Staat ideell und materiell entlastet.
Der Chef des Dorfes in
Podolien
Manövergelände. Am Rande, unweit des Dor-
fes, versammeln sich Hunderte von Pferden
der Kavallerie der USSR zur Ruhe. Die
Flugzeuge der russischen Konstruktion sind
in den Zelthallen geborgen. Das Lager leuch-
tet unter der weißen Abendsonne der weiten
ukrainischen Ebene. Soldaten der Roten Ar-
mee ziehen truppweise in die umliegenden
Dörfer. Nach den Dienststunden sind sie frei

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