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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 8
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Walden, Herwarth: Sowjet-Russland
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0119

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und gehen ohne Urlaubsschein, wohin sie
wollen. Alle Aviatiker aber mit Kommandeur
und Orchester begeben sich geschlossen in
das westliche Dorf. Hundertfünfzig Gehöfte.
Zweitausend Einwohner. Mit Krankenhaus,
Schule, Mutterschutz und Säuglingsheim. Die
Behörde, der Dorfsowjet, hat zwei einfache,
aber auffallend saubere Zimmer in einem
Holzhaus. Das behördliche Material, Akten
und Archiv in einer Truhe. Zwei Stühle,
eine lange Bank, und ein großer Tisch. Hin-
ter ihm Krassni Ugolok, der rote Winkel,
der sich in jeder Behörde der USSR findet.
Hauptsächlich Bilder von Lenin und den füh-
renden Männern der Republik. Alles um-
kränzt mit Blumen und Fähnchen. An den
übrigen Wänden Verordnungen. Keine Ver-
bote, sondern Mitteilungen, wo und wie man
am schnellsten <und einfachsten Auskunft,
Rat und Hilfe in den Angelegenheiten des
täglichen Lebens bekommt. Im zweiten Zim-
mer des Sowjets sitzt der Sekretär der Or-
ganisation zur gegenseitigen Hilfe der Bau-
ernschaft. Beitrag monatlich fünfzig Kope-
ken. Von diesen Beiträgen werden landwirt-
schaftliche Bedarfsartikel angeschafft, die der
Einzelne sich nicht leisten kann. Ein Sowjet
wird von den Bewohnern des Dorfes gewählt.
Der Sowjet wählt aus sich heraus eine aus-
führende Behörde, die die eigentliche und
tatsächliche Verwaltung darstellt, dem Sow-
jet aber verantwortlich ist.
Hinter dem Sowjethaus hat sich in einem
großen alten Naturgarten das gesamte Dorf
versammelt. Mit Kindern. Zwischen den
Dorfbewohnern lagern viele Soldaten, vor
allem Aviatiker. Büchsensammlung. Auf-
schrift: Unsere Antwort an Chamberlain: Frei-
willige / Beiträge zur Erbauung eines Luft-
geschwaders. Abbruch für die Verteidigung
der USSR. Selbst in diesem armen Dorf sind
die Büchsen schnell voll. Heute ist große
Feier. Die fünfzigste Luftschifferabteilung
wird Chef des Dorfes, das vielleicht früher
unter dem Protektorat irgendeiner Prinzessin
stand. Die spendete in solchen Fällen bei der

Uebernahme etwa einen silbernen Humpen.
Die Luftschifferabteilung hingegen übernimmt
als Chef des Dorfes die kulturelle Bildung
und die militärische Ausbildung der Bewoh-
ner zur Verteidigung des Landes. Viele Re-
den werden gehalten. Der Vorsitzende des
Dorfsowjets betont, daß die Rote Armee der
waffengeübte Teil der werktätigen Bevölke-
rung ist. Der Kommandeur erklärt, daß die
Armee nur als Volksteil fühlt und empfindet.
Die Abteilung betrachtet es als große Ehre,
dem Dorf helfen zu können. Man werde
sich gemeinsam politisch fortbilden, kultu-
relle Vorträge sollen gehalten werden, das
Orchester werde zur Belustigung und Erhei-
terung dienen. Männer, Frauen und Kinder
werden lernen, wie man den Angriff eng-
lischer Luftschiffe abwehren könne. Bauern
beteuern, daß sie sogar die Ernte sofort ver-
lassen werden, um die Sowjetrepublik und
ihre Führer zu verteidigen. Die Versammlung
erhebt sich jubelnd, die Kapelle spielt die
Internationale, die elektrische Beleuchtung
des Gartens, die neue Errungenschaft, glänzt
auf. Drei Stunden sind indessen vergangen.
Ohne Ermüdung, ohne Essen und Trinken
haben alle Teilnehmer der Feier gefolgt. Als
Nachspiel Theatervorstellung, gespielt von
Soldaten und Bauern. Ein großer nationali-
sierter Saal mit elektrischer Beleuchtung und
Bühne. Ganz überfüllt. Jeder Gang, jede Tür
dicht besetzt. Orchesterspiel. Vorhang. Der
junge Bauer geht freudig zur Roten Armee.
Die Eltern sind Gegner der Sowejtmacht,
lassen sich aber gerade durch die Taten und
Handlungen ihres Sohnes bekehren. Es wird
sehr gut gespielt. Man merkt, daß das Thea-
ter Stanislawskis nur eine Steigerung ur-
sprünglicher schauspielerischer Begabung des
russischen Volkes ist. Ende der Vorstellung
ein Uhr. Die Soldaten ziehen zum Lager,
singend, der Mond liegt spielerisch über dem
Bug. Die Dorfbewohner stehen vor ihren
kleinen weißen Hütten, die Nachbarn spre-
chen eifrig noch weiter über Politik und
Krieg.

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