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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 18.1927-1928

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Heft 8
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Walden, Herwarth: Sowjet-Russland
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https://doi.org/10.11588/diglit.47218#0120

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Dispensair
Ein altes einstöckiges Haus in einer Haupt-
straße Moskaus. Durch drei Torbögen und
drei Höfe. Ein zweistöckiges Gebäude. Li-
noleum, gewaschene Wände, Karbolgeruch.
Viele Menschen auf breiten Fluren. Sie lesen,
zittern, träumen. Gruppen unterhalten sich
mit Männern in weißen Kitteln. Aus vielen
Türen kommen und gehen Menschen. In
einem kleinen Saal eine Versammlung auf
Schulbänken. Am Vorstandstisch ein Arzt,
ein Arbeiter und eine Aerztin. Sie berichtet
der Versammlung als Mitglied der Sanitäts-
kommission einer Fabrik über den Zustand
der hygienischen Einrichtungen. Diese Kom-
mission hat jedes Unternehmen der USSR.
Sie besteht aus gewählten Arbeitern, die der
Gesamtheit verantwortlich sind. Es wird nicht
nur kontrolliert, es werden Besserungsvor-
schläge gemacht und deren Durchführung
überwacht. Alle diese Kommissionen arbeiten
auch zusammen mit den Dispensairs. Sie gibt
es für soziale Krankheiten: Tuberkulose, Al-
koholismus, Narkotismus und venerische
Krankheiten. Sie arbeiten alle nach den glei-
chen Grundsätzen: schnellste Heilung, Auf-
klärung der Kranken und Vorbeugung der
Krankheiten. In dem Moskauer Dispensair
für venerische Krankheiten arbeiten dreißig
Aerzte. Sie werden nur zugelassen, wenn sie
jahrelange klinische und praktische Erfahrung
haben. Bei jedem schwierigeren Fall werden
sofort die bedeutendsten Professoren hinzu-
gezogen. Die Tendenz ist so schnell und so
gründlich wie möglich zu heilen, um weitere
Ansteckung zu verhindern. Jedem Kranken
wird sofort seine Krankheit, Ursachen, Folgen
und Heilungsmethode auch durch bildliche
Darstellung erklärt. Wenn der Kranke die
Behandlung zu unterbrechen versucht, geht
der Arzt zu ihm in die Wohnung und über-
redet ihn im Interesse der Volksgesundheit
und im eigenen Interesse zur Fortsetzung. Der
größte Wert wird auf die Feststellung der

Herkunft der Krankheit gelegt. Der behan-
delnde Arzt hat die Pflicht, nicht eher Ruhe
zu geben, bis der Kranke seine gesamte Fa-
milie zur Untersuchung in das Dispensair ge-
bracht hat. Nach der letzten Statistik sind
unter 1070 Familienmitgliedern von Kranken
950 krank gewesen. Die Aerzte werden stän-
dig darauf hingewiesen, daß sie mit dem
größten Takt und der größten seelischen
Schonung vorgehen müssen. Sie versuchen
auf alle Weise die Freundschaft und das Zu-
trauen des Kranken zu gewinnen, damit er
ihnen selbst seine Familie zuführt. In den
Warteräumen sind ständig jüngere Aerzte, die
sich mit den Wartenden über ihre Krankheit
unterhalten und aufklären. Für besonders
Schüchterne ist ein Fragekasten angebracht.
Fragen und Antworten werden an den Wand-
tafeln aufgehängt. Vom Dispensair werden
ständige Wanderausstellungen veranstaltet.
Auf großen Tafeln bildliche Darstellungen der
Krankheit und ihre Folgen, wenn man sie
nicht behandeln läßt. Diese Ausstellungen
finden in sämtlichen Betrieben und Büros
statt. Während der Arbeitspausen sind Aerzte
bei der Ausstellung anwesend, die erklären
und Fragen beantworten. Die Behandlung
und die Arzneien sind völlig kostenlos. Das
Dispensair für venerische Krankheiten ist im
letzten Berichtsjahr von 280 000 Personen be-
sucht worden. Da das System, Behandlung,
Aufklärung und Vorbeugung große Erfolge
erzielt, macht man die größten Anstrengun-
gen, überall in der USSR Dispensairs zu er-
richten. Moskau hat bisher sechs. In die Ge-
biete, die noch keine derartigen Institute ha-
ben, werden Aerztekommissionen gesandt, na-
mentlich nach dem fernen Osten. In einzel-
nen Städten und Dorfgemeinden wird die ge-
samte Bevölkerung, Männer, Frauen und Kin-
der, auf venerische Krankheiten untersucht
und ambulatorisch behandelt. Die Haupt-
schwierigkeit für die Aerzte dort ist, das Volk
davon zu überzeugen, daß Krankheiten keine
gottgewollten Unternehmungen sind. Sämt-
liche Aerzte sind Staatsangestellte. Privat¬

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