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Deutsche Kunst- und Antiquitätenmesse [Hrsg.]
Die Weltkunst — 6.1932

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Nr. 12 (20. März)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44980#0077
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20 MÄRZ 1932

VI. JAHRGANG, Nr. 12


LrMONDErfaARTS

ARTäAVORLD

ILLUSTRIERTE WOCHENSCHRIFT

I»AS INTERNATIONALE ZENTRALORGAN FÜR KUNST / BUCH / ALLE SAMMELGEBIETE UND IHREN MARKT

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Herausgeber Dr. J.I.von Saxe

WERTHEIM : DAS BIBLOGRAPHIKON
Alte Graphik Seltene Bücher Moderne Kunst

Die Redaktion

Bildung und die neue

Von Dr. Fritz Neugass

J. & S. GOLDSCHMIDT

NEW-YORK

55, East 57,h Street

Be-
auf-

BEW YORK
73©, Awmae

Viktoriastr. 3-<

FRAHEFURT
Eaässs'stff. IS

war

Martin Gottlob Klauer, Goethe. Um 1790
Schwarz gebrannter Ton. H. 52 cm
Nationalgalerie, Berlin

PÄR IS
11 Ms, K»® Boissy ö’Ji-ngtes

Nur ein so großer Mensch
die kongenialen Kräfte
erleben. Winckelmann
seiner klassizistischen
der urwüchsigen Größe

schriebenen und eleganten Formen des Helle-
nismus sind als Äußerungen einer Spätkultur
dem Erben des Rokoko am leichtesten zugäng-
lich. Heute können wir nicht mehr verstehen,
daß Winckelmann das Wort der „edlen Einfalt
und stillen Größe“ für den Laokoon und den
Apoll von Belvedere geprägt hat. Goethe emp-
findet den antiken Werken gegenüber heilige
Scheu und stumme Andacht. Er ist der erste,
der die Größe und Bedeutung der archaischen
Kunst mehr erfühlt als erforscht hat. Die
frühgriechische Architektur der Tempel von
Paestum hat ihn verwirrt und erschüttert, so
daß er ganz verlegen vor ihnen steht. Er
wußte nichts anderes zu schreiben als: „Ich
pries den Genius, daß er mich diese so wohl
erhaltenen Reste mit eigenen Augen sehen

Am 22. März feiert die gesamte Kulturwelt den 100. Todestag Goethes. Dieser Gedenktag
gibt Anlaß, auch das viel diskutierte Problem der Beziehung Goethes zur bildenden
Kunst wieder aufzunehmen. Wir glauben dem Interesse unserer Leser am besten zu dienen,
wenn wir zwei Autoren zu Worte kommen lassen, die Goethes Verhältnis zur Antike, zur
zeitgenössischen Kunst und zur Kunst im Allgemeinen von abweichenden, teilweise ent-
gegengesetzten Standpunkten aus beleuchten.

Sehnsucht seiner
leit wies ihm den Weg,
auf dem er unentwegt
zur höchsten Vollendung
schritt. Die Versenkung
in die Antike war
ihm tiefinnerliches Be-
dürfnis und die Grund-
bedingungen seines
künstlerischen Strebens.
Denn „allen anderen
Künsten muß man etwas
vergeben, der griechi-
schen allein bleibt man
ewig Schuldner“.
Auch in Rom ist es
wieder dieAntike.die ihn
am stärksten berührt.
Der Geschmack des
Klassizismus, die Schule
Winckelmanns ist un-
verkennbar. Die Werke
der spätgriechischen
Kunst bewegen ihn am
meisten. Die ausge-

Goethe in Italien
g.111 B ei trag zum Wandel des Stil-
gefühls im 19. und 20. Jahrhundert

Boden, wo dieser alte Samen am üppigsten
gedeihen konnte. Das antike Erbe befruchtete
wieder einmal die neue
Kunst. Und Goethe war
ihr Künder. Winckel¬
mann und Oeser hatten
ihn theoretisch ge¬
schult; in Italien bot
sich ihm jetzt Gelegen¬
heit, seinen Blick zu
schärfen. Seine Ein¬
fühlungsgabe ließ ihn
bald ein eigenes Urteil
finden.
Goethe
siker“: er vernahm nur
die Schwingungen, die
von der Antike aus¬
gingen und von der Re¬
naissance wieder aufge¬
nommen wurden. Er ist
darin ganz ein Schüler
Winckelmanns, daß er
zur frühchristlichen
Kunst kein Verhältnis
gewinnt, daß die mittel¬
alterliche Kunst in
Italien ihn abstößt und
das Quattrocento sich
ihm nur in einzelnen
Fällen offenbart. Goethe
empfing seine Eindrücke
rein künstlerisch, jeg¬
liches historische Den¬
ken lag ihm fern. Nur
die
Z,

Darin war
ganz „Klas-

ließ“, und später sagte er noch: „Es ist die
letzte, und fast möchte ich sagen die herr-
lichste Idee, die ich nun nordwärts vollständig
mitnehme.“ Diese Worte sind das schönste
und stärkste — wenn auch hilfloseste
kenntnis, das Goethe in seinem Tagebuch
gezeichnet hat.
Für die altchristliche Kunst dagegen
Goethe trotz der starken antiken Tradition,
die sich in ihr auswirkte, nicht im geringsten
empfänglich. Die frühmittelalterlichen Basi-
liken, die heute zu den Hauptsehenswürdig-
keiten Roms gerechnet werden, erscheinen ihm
„merkwürdig“, bestenfalls „bewunderungs-
würdig“. Diesen Zug der absoluten Negation
frühchristlicher und mittelalterlicher Kunst
treffen wir bei Goethe auf seiner ganzen
Reise. Es liegt hierin etwas von der protestan-
tischen Einstellung vieler deutscher Forscher
und Gelehrter, die unter diesem Gesichtspunkt
uns Italien und die Antike in einem völlig miß-
verstandenen Sinne ausdeuten. Die Renais-
sance fügt sich ein in die große geistige Linie,
die von der Antike zum Klassizismus führt.
Florenz, die eigentliche Stadt der Renaissance,
wird zwar nur flüchtig berührt und eiligst
durchlaufen. „Hier tut sich mir eine ganz
neue unbekannte Welt auf, in der ich nicht
verweilen will“, doch später in Rom findet
Goethe Gelegenheit, sich über die künstle-
rischen Probleme zu verbreiten. Trotz der
hohen Anerkennung Palladios findet auch
Michelangelo als dessen künstlerischer Gegen-
pol Goethes höchste Begeisterung. Nach
einem Besuch der Sixtinischen Kapelle im
Vatikan preist er das Andenken dieses glück-
lichen Tages. „Ich konnte nur sehen und an-
staunen, die innere Sicherheit und Männlich-
keit des Meisters, seine Großheit geht über
allen Ausdruck.“
wie Goethe konnte
eines Michelangelo
konnte dagegen in
Kunstauffassung zu
Michelangelos kein inneres Verhältnis finden.
Goethes Schilderung der italienischen Reise,
die auch heute noch, alles in allem genommen,
die durchglühteste und lebendigste Schilderung
ist, fand manche kritische Würdigung und ent-
gegengesetzte Meinung. So schrieb schon
Niebuhr in den zwanziger Jahren des vori-
gen Jahrhunderts, es komme ihm vor, als be-
trachte Goethe das ganze Land und die ganze
Nation als eine Ergötzung für sich. Die neue
Gesinnung und die Hochschätzung des Deut-
schen zeigt am deutlichsten Jakob Grimm :
Im Süden verfließt das gewöhnliche Leb.en mit
Lust und Geschmack, dem ernsten Norden
traue ich dafür innere Blicke und Freuden zu,
von welchen dort vielleicht keine Ahnung ist.“
Ist es ein Zufall, wenn ein zeitgenössischer
Dichter um die Jahrhundertwende die Flucht
aus dem Süden gleichnishaft wiederholt und
selbst mit romanischem Blut in seinen Adern
seine Liebe den Blonden und Blauäugigen
schenkt? In seinem „Tonio Kröger“ schreibt
Thomas Mann: „Gott, gehen Sie mir doch
mit Italien. Italien ist mir bis zur Verach-
tung gleichgültig! Das ist lange her, daß ich
mir einbildete, dorthin zu gehören. Kunst,
nicht wahr? Sammetblauer Himmel, heißer
Wein und süße Sinnlichkeit . . . Kurzum, ich
mag das nicht. Ich verzichte, die ganze Bel-
lezza macht mich nervös. Ich mag auch alle
diese fürchterlich lebhaften Menschen dort

k Goethe, der uns noch heute oftmals als das
aller Dinge offenbart wird, eroberte sich
J Italien eine Kunst- und Weltanschauung,
ihn zum Künder einer neuen Zeit und
neuen Stiles werden ließ. Heute lösen
Oap (^’e Kulturkrisen immer häufiger ab, so
f A in den 146 Jahren seit Goethes Italien-
l i das Bild unserer Zeit sich stets gewan-
1 hat. In Goethe selbst wirkt sich der große
fc^°päische Kampf zwischen Norden und
aus. Wenn er in seinen Straßburger
(JMienjahren begeisterte Worte über das dor-
$5® Münster fand, wenn er seinen „Götz“ und
q' 11 ®n „Faust“ dichtete, so war dies ein an-
I;Goethe als der Dichter der „Iphigenie“
des „Tasso“, ein anderer als der von Sehn-
hcht Getriebene, der von Rom aus seinem
(>j 6llnd und Lehrer Herder schrieb: „Ich zähle
zweiten Geburtstag, eine wahre Wieder-
(g drt von dem Tage, da ich Rom betrat“
' Dez. 1786).
lj .Dieser Zwiespalt, der in Goethe am deut-
en offenbar wird, ist das Schicksal und
U Tragik europäischer Geistesgeschichte, der
zwischen Edda und Homer, zwischen
WaheSpeare und Racine, Grünewald und
4ig 6r> Rembrandt und Raffael. Immer treffen
zwei Welten aufeinander, bekämpfen und
^.hdringen sich, lösen und verdichten die
l^hnungen, die unsere deutsche Seele mit
«Ruscher Tiefe und griechischer Schönheit
Jahrhundert Goethes wiederholt den
um die Beschwörung hellenischen Gei-
’ Goerthe selbst ist der einzige Deutsche,
seiner Zeit die Harmonie von nordischem
^südlichem Wesen völlig erreicht hat, und
halb im wahrsten Sinne der „klassische
kl jSch“. Doch auch die Gegenkräfte wurden
(lie'ü6 Wagschale geworfen und entfesselten
‘drömungen, die in der Romantik am hef-
Mw6 das klassische Ideal bekämpften. So
Jede große deutsche Krise und Wende
Seitet durch eine neue Wiederentdeckung
^dVPrdens. Seit Goethes italienischer Reise
\:t., die nordischen Kräfte wieder in uns ge-
Wurden, beherrschen unsere Zeit und
den Abstand von Goethe in scharf um-
®hen Grenzen.
war für Europa der Mittler antiker
r> und Deutschland war der fruchtbarste

Brunner
 
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