113
1904.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
114
„Der ich treu in Wüsten blieb;
„Bei dem seligen Scheidegrufse,
„Den im Sand ich niederschrieb —"
Und mit diesem, in nächtlich-dunklem
Grunde hingelagerten, besserer Bedeckung doch
sehr benötigten Weibe vergleiche man den
aus Pinturicchio's glänzendem Fresken-Ziklus
bekannten „Besuch des hl. Antonius bei Paulus
Eretnita" des Appartamento Borgia. Der Meister
hat den heiligen Anachoreten ihre Charakte-
ristika — worüber die Acta Sanctorum be-
richten — beigegeben. Gottes Güte preisend,
brechen, vor einem Felsentore sitzend, Antonius
und Paulus, das diesem von dem Raben ge-
brachte Brot. Hinter Antonius treten nun leichten
Schrittes, halb hinschwebend gleich den Hören,
die Versuchungen in Gestalt von Teufelinnen.
Für den Beschauer haben sie durchaus nichts
Bedenkliches, denn sie erscheinen in der Ge-
wandung der Vornehmen aus den Glanztagen
der Renaissance; es sind Idealfiguren, die zu
der näheren Umgebung und der heiteren
Fernsicht ins linienschöne umbrische Tal, wie
es sich zwischen Perugia, Spello — der nicht
minder denkwürdigen Arbeitsstätte Pinturicchio's
— und Spoleto dahinzieht, durchaus in Ein-
klang stehen. — Es sind Teufelinnen, darüber
sind wir nicht im Zweifel, weil dies ein fast
kokett sichtbar werdender Fledermausfiügel an-
deutet, wenn uns nicht schon die Krallenfüfse
und die aus dem reichen Haarschmuck hervor-
tretenden Hörnchen ihr wirkliches Wesen ver-
rieten; aber um sie lagert sich nicht die brütende
Schwüle der Sünde, und der Künstler wird nicht
zum Verführer, indem er die Versuchung malt.
Wir wissen nun, wie es geschehen kann,
wir wissen, wie es geschehen soll, und damit,
was iürder geschehen mufs!
Schillers ernste Mahnung an die Künstler:
„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben"
sei und bleibe aller Orten beobachtet und zu
jeder Zeit unvergessen, damit die Kunst
ihren Zweck erfülle und fortgesetzt veredelnd
und erhebend wirke, auf dafs durch sie recht
Viele vor jener mephistophelischen Gesellschaft
bewahrt bleiben, welche uns Goethe42) in
seinen mitternächt'gen Graungestalten vor Augen
führt, die sich gleich unentrinnbaren Schatten
an die Fersen des Verführten hängen: Mangel,
Schuld, Sorge und Not, deren unabwendbares
Ende — zwiefacher Tod ist.
") II. Teil Faust (Mitternacht).
Doch wollen wir nicht verfehlen, auch der
weniger schuldvollen Auswüchse zu gedenken,
solcher, die tatsächlich auf mangelndes Wissen
zurückzuführen sind. Denn für die „christliche
Kunst" als Führerin kommt, wo immer sie auch
Anwendung finden mag, nur ein Ziel in Be-
tracht, und das ist: das Höchste in einem
jeden Falle zu erreichen. — Wie wir schon
wiederholt vernommen, ist sie niemals den an
sie gestellten berechtigten Forderungen aus
dem Wege gegangen, und innerhalb ihrer enger
gezogenen Schranken war es insbesondere die
„kirchliche Kunst", die zu keiner Zeit die
Traditionen der Vorangegangenen23) verleug-
nete, vielmehr beim Verfalle der profanen Kunst
die alten Überlieferungen im weitesten Umfange
mit Sorgfalt sammelte, bewahrte24) und unaus-
gesetzt um deren Ausbau und ihre Verwendung
bemüht blieb. Dies spricht auch Johanna
Schopenhauer in ihrem Werke: „Johann van
Eyk und seine Nachfolger" (Bd. I S. 125), un-
,3) In dem Werke „Zur Ölmalerei der Alten" von
Franz Gerh. Cremer (Düsseldorf 1003) lesen wir über
die Notwendigkeit des Anknüpfens an das Voran-
gegangene Seite 20: Dr. Augustinus Egger, Bischof
von St. Gallen, sagt in seinem Werke „Zur Stellung
des Katholizismus im XX. Jahrh." (Freiburg im Breis-
gau 1902, Herder'sche Verlagshandlung) Seite 8fl:
„Im Laufe ihrer bald 2000jährigen Geschichte be-
gegnete die Kirche fortwährenden Änderungen und
neuen Verhältnissen in der Welt. Sie ist auf die neuen
Anforderungen, welche jede neue Zeit an sie stellte,
eingegangen und hat ihre Einrichtungen und ihr Ver-
halten darnach eingerichtet; aber sie hat nie ihre Ver-
gangenheit verleugnet; immer ist sie sich selber gleich
geblieben .... wenn auch jede neue Periode der
Wissenschaft (Seite !)8) neue Fragen vorlegt und eine
andere Art der Behandlung verlangt, so liegt es doch
im Geiste der katholischen Wissenschaft (von der die
Kunst nicht ausgeschlossen werden kann), dafs sie
ihre eigene grofse Vergangenheit nicht verleugnet,
vielmehr sich an dieselbe anschliefst, nicht um eine
Entwicklung nach rückwärts, sondern nach vorwärts.
Der wahre Fortschritt beruht darauf, dafs die Tradi-
tionen der Vergangenheit und die Bedürfnisse der
Gegenwart in das richtige Verhältnis gebracht werden.'
") Chateaubriand „Genie du Christianisme" chap.
IV, pag. 270 sagt: „Es waren die Begründer des
katholischen Gottesdienstes keine geschmacklosen
Barbaren, und keine bigotten, einem abgeschmackten
Aberglauben sich hingebenden Mönche, die zu Kon-
stantinopel die schönste Büchersammlung der Welt
mit den gröfsten Meisterwerken der Kunst vereinigten,
unter denen vornehmlich des Praxiteles Venus zu
nennen bleibt. . . ."
Weiteres sehe man hierzu bei Cremer „Unter-
suchungen über den Beginn der Ölmalerei" S. 03 ff„
ferner ebend. die Anmerkungen unter 133 und 135
von Seite 164 bis 171.
1904.
ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 4.
114
„Der ich treu in Wüsten blieb;
„Bei dem seligen Scheidegrufse,
„Den im Sand ich niederschrieb —"
Und mit diesem, in nächtlich-dunklem
Grunde hingelagerten, besserer Bedeckung doch
sehr benötigten Weibe vergleiche man den
aus Pinturicchio's glänzendem Fresken-Ziklus
bekannten „Besuch des hl. Antonius bei Paulus
Eretnita" des Appartamento Borgia. Der Meister
hat den heiligen Anachoreten ihre Charakte-
ristika — worüber die Acta Sanctorum be-
richten — beigegeben. Gottes Güte preisend,
brechen, vor einem Felsentore sitzend, Antonius
und Paulus, das diesem von dem Raben ge-
brachte Brot. Hinter Antonius treten nun leichten
Schrittes, halb hinschwebend gleich den Hören,
die Versuchungen in Gestalt von Teufelinnen.
Für den Beschauer haben sie durchaus nichts
Bedenkliches, denn sie erscheinen in der Ge-
wandung der Vornehmen aus den Glanztagen
der Renaissance; es sind Idealfiguren, die zu
der näheren Umgebung und der heiteren
Fernsicht ins linienschöne umbrische Tal, wie
es sich zwischen Perugia, Spello — der nicht
minder denkwürdigen Arbeitsstätte Pinturicchio's
— und Spoleto dahinzieht, durchaus in Ein-
klang stehen. — Es sind Teufelinnen, darüber
sind wir nicht im Zweifel, weil dies ein fast
kokett sichtbar werdender Fledermausfiügel an-
deutet, wenn uns nicht schon die Krallenfüfse
und die aus dem reichen Haarschmuck hervor-
tretenden Hörnchen ihr wirkliches Wesen ver-
rieten; aber um sie lagert sich nicht die brütende
Schwüle der Sünde, und der Künstler wird nicht
zum Verführer, indem er die Versuchung malt.
Wir wissen nun, wie es geschehen kann,
wir wissen, wie es geschehen soll, und damit,
was iürder geschehen mufs!
Schillers ernste Mahnung an die Künstler:
„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben"
sei und bleibe aller Orten beobachtet und zu
jeder Zeit unvergessen, damit die Kunst
ihren Zweck erfülle und fortgesetzt veredelnd
und erhebend wirke, auf dafs durch sie recht
Viele vor jener mephistophelischen Gesellschaft
bewahrt bleiben, welche uns Goethe42) in
seinen mitternächt'gen Graungestalten vor Augen
führt, die sich gleich unentrinnbaren Schatten
an die Fersen des Verführten hängen: Mangel,
Schuld, Sorge und Not, deren unabwendbares
Ende — zwiefacher Tod ist.
") II. Teil Faust (Mitternacht).
Doch wollen wir nicht verfehlen, auch der
weniger schuldvollen Auswüchse zu gedenken,
solcher, die tatsächlich auf mangelndes Wissen
zurückzuführen sind. Denn für die „christliche
Kunst" als Führerin kommt, wo immer sie auch
Anwendung finden mag, nur ein Ziel in Be-
tracht, und das ist: das Höchste in einem
jeden Falle zu erreichen. — Wie wir schon
wiederholt vernommen, ist sie niemals den an
sie gestellten berechtigten Forderungen aus
dem Wege gegangen, und innerhalb ihrer enger
gezogenen Schranken war es insbesondere die
„kirchliche Kunst", die zu keiner Zeit die
Traditionen der Vorangegangenen23) verleug-
nete, vielmehr beim Verfalle der profanen Kunst
die alten Überlieferungen im weitesten Umfange
mit Sorgfalt sammelte, bewahrte24) und unaus-
gesetzt um deren Ausbau und ihre Verwendung
bemüht blieb. Dies spricht auch Johanna
Schopenhauer in ihrem Werke: „Johann van
Eyk und seine Nachfolger" (Bd. I S. 125), un-
,3) In dem Werke „Zur Ölmalerei der Alten" von
Franz Gerh. Cremer (Düsseldorf 1003) lesen wir über
die Notwendigkeit des Anknüpfens an das Voran-
gegangene Seite 20: Dr. Augustinus Egger, Bischof
von St. Gallen, sagt in seinem Werke „Zur Stellung
des Katholizismus im XX. Jahrh." (Freiburg im Breis-
gau 1902, Herder'sche Verlagshandlung) Seite 8fl:
„Im Laufe ihrer bald 2000jährigen Geschichte be-
gegnete die Kirche fortwährenden Änderungen und
neuen Verhältnissen in der Welt. Sie ist auf die neuen
Anforderungen, welche jede neue Zeit an sie stellte,
eingegangen und hat ihre Einrichtungen und ihr Ver-
halten darnach eingerichtet; aber sie hat nie ihre Ver-
gangenheit verleugnet; immer ist sie sich selber gleich
geblieben .... wenn auch jede neue Periode der
Wissenschaft (Seite !)8) neue Fragen vorlegt und eine
andere Art der Behandlung verlangt, so liegt es doch
im Geiste der katholischen Wissenschaft (von der die
Kunst nicht ausgeschlossen werden kann), dafs sie
ihre eigene grofse Vergangenheit nicht verleugnet,
vielmehr sich an dieselbe anschliefst, nicht um eine
Entwicklung nach rückwärts, sondern nach vorwärts.
Der wahre Fortschritt beruht darauf, dafs die Tradi-
tionen der Vergangenheit und die Bedürfnisse der
Gegenwart in das richtige Verhältnis gebracht werden.'
") Chateaubriand „Genie du Christianisme" chap.
IV, pag. 270 sagt: „Es waren die Begründer des
katholischen Gottesdienstes keine geschmacklosen
Barbaren, und keine bigotten, einem abgeschmackten
Aberglauben sich hingebenden Mönche, die zu Kon-
stantinopel die schönste Büchersammlung der Welt
mit den gröfsten Meisterwerken der Kunst vereinigten,
unter denen vornehmlich des Praxiteles Venus zu
nennen bleibt. . . ."
Weiteres sehe man hierzu bei Cremer „Unter-
suchungen über den Beginn der Ölmalerei" S. 03 ff„
ferner ebend. die Anmerkungen unter 133 und 135
von Seite 164 bis 171.