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Zeitschrift für christliche Kunst — 21.1908

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Schönermark, Gustav: Der Kruzifixus in der Gotik
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https://doi.org/10.11588/diglit.4126#0023

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1908.— ZEITSCHRIFT FÜR CHRISTLICHE KUNST — Nr. 1.

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unter den Füßen des Gekreuzigten, also vom
Christentum überwunden, dargestellt wurde;
alsbald trat dafür die Figur der Terra, also
das Irdische selber, an die Stelle, und schließ-
lich als Konsole, ein aus Pflanze und Tier
bestehendes Unholdsgebilde der Art, wie das
Mittelalter sich das irdisch und dämonisch
Sündhafte vorstellte. Darstellungen, wie man
sie gleichfalls unter dem Kreuze romanischer
Zeit findet, z. B. schlangenartige, am Kreuzes-
stamm sich emporwindende Geschöpfe, Vater
Adam, der aus dem Grabe steigt — er soll
bekanntlich gerade an der Stelle des Kreuzes
beerdigt sein — und andere Auferstehende,
die Hände himmelswärts erhebend, passen
recht wohl in diesen Gedankengang. Alle
sprechen dasselbe aus, den Sieg des Gekreu-
zigten, also des Christentums, über das Irdische,
über Sünde, Tod und Teufel.

Die Ausgestaltung und Umstellung des
Kruzifixus der romanischen Zeit, wie sie eben
dargelegt sind, waren erwachsen auf dem
Boden scholastischer Bildung, d. h. aus den
Anschauungen jener Schulphilosophie heraus,
die das Dogma zum Ausgangspunkte der
Untersuchung zu machen pflegte. Der Geist,
nicht eigentlich das Gemüt, hatte den Kruzi-
fixus gebildet, so tiefsinnig manches Stück sein
mag. Der romanische Kruzifixus spricht die
erhabene Sprache des Siegers, der triumphierend
die Mühen des Kampfes vergessen macht.

Schon in der Übergangszeit zur Gotik fing
solche Sprache an, nicht mehr verstanden zu
werden. Denn nach den Kreuzzügen, den
großartigen Zeugen für jene eigentümliche Auf-
fassung, das Reich Gottes zu mehren, gab es
eigentlich keinen Kampf mehr um die Herr-
schaft des Christentums; für das Streben der
antiken Welt nach Sinnenlust und irdischem
Wohlergehen war das Streben nach Entsagung
und himmlischer Vollkommenheit an die
Stelle getreten. Und diese Auffassung hatte
sich in allen germanischen Reichen so ge-
festigt, daß es kaum noch ein Dorf gab,
in dem sie nicht durch einen steinernen
Kirchenbau monumentalen Ausdruck gefunden
hätte. Was für eine Anschauung trat nun
mit der Gotik auf, und wie zeigt sie sich im
Kruzifixus ?

War die Sünde der Menschen dem romani-
schen Kruzifixus nach besiegt, so konnte es
sich für die sündige Menschheit nur um Ver-
gebung durch den Sieger, mithin durch das

Christentum handeln. Es mußte also im
Kruzifixus der Gotik einerseits die unend-
liche Liebe des Gekreuzigten ausge-
sprochen werden, andererseits die glühende
Sehnsucht nach dieser Liebe von
Seiten der sündigen Menschheit, die
nach Reue und Buße des Trostes und der
Erlösung bedurfte. Zu diesem Zwecke konnte
der Gekreuzigte nicht mehr als der allmäch-
tige Gott oder auch nur als der machtvolle,
siegreiche Held erscheinen, sondern mußte
Mensch werden, der wie alle Menschen
Schmerzen empfand und ihnen erlag. Nur
dadurch, daß er, der Göttliche, den Menschen
menschlich näher kam, konnte er in ihre
Herzen Eingang finden.

Die Inhaber der Macht waren bisher ge-
wesen die Kirche mit der Spitze im Papst-
tume und der Feudalstaat mit dem Kaiser-
tume zuhöchst. Inzwischen hatten sich jedoch.
die Städte,. germanischer Länder ausgebildet.
Indem sie zu mächtigen und selbständigen
Gemeinwesen geworden waren, trat das Bürger-
tum als ein neuer Machtinhaber hinzu. Der
Geist des Mittelalters änderte sich dadurch
nicht; er wurde nur verallgemeinert und oft
bis zum Äußersten verschärft. In größerer
Zahl waren auch Universitäten entstanden.
Sie verbreiteten wohl das Licht der Wissen-
schaft, aber es war nicht das nüchterne Sonnen-
licht der freien Forschung, sondern ein durch
die Kirche künstlich gemildertes und gefärbtes
Licht, dem vergleichlich, wie es damals von den
riesigen, mit farbenprächtigen Glasmalereien
geschlossenen gotischen Maßwerksfenstern ge-
spendet wurde. Was die Scholastiker zur Er-
leuchtung der Welt gedacht hatten, fand durch
die Mystiker Fortentwicklung und Vertiefung,
vor allen aber Eingang in die breite Masse
des Volks. Dazu ergriffen Predigten wie die
des hl. Franziskus vollends das Gemüt und
ließen es ganz in der Anschauung des blutig-
sten Leidens Christi aufgehen, um nicht zu
sagen, Gefallen finden. Um für das Christen-
tum zu begeistern, brauchte nun nicht mehr
die siegende Allmacht eines Gottes dargestellt
zu werden, sondern das bitterste Leiden wollte
man sehen, da dessen geduldiges Ertragen
durch die Aussicht auf Vergebung und Er-
lösung zu trösten vermochte. Die Religion
hatte nicht so sehr Freude zu spenden, als
Trost. Der gotische Kruzifixus beleuchtet
diese Tatsache.
 
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