Minna.
Diese aber ist der dramalische Fund; in ihr kann sich
die Komik von Pflicht und Ehre restlos entwickeln, denn
die Liebe, als eines der natürlichsten und instinktivsten
Gefühle, muß ja zu den nicht natürlichen sittlichen Ge-
fühlen den stärksten Gegensatz bilden.
Es handelt sich also um den Kampf zwischen Pflicht
und Ehre einerseits und Liebe anderseits. Da Pflicht
und Ehre die gegebenen Mächte sind, welche die Festung
innehaben, so muß die Liebe angreifen.
Damit ist also ein wichtiger Charakterzug der Minna
nötig und eine wichtige Handlung von ihr.
Aber wenn ein Dichter, der selber ein Tellheim ist,
seine Natur komisch nimmt, so muß das auf der ent-
sprechenden Höhe der Gesittung vor sich gehen. Es darf
keine niedrige Liebe sein, welche einen Tellheim verfolgt.
Jn der Wirklichkeit kann es ja wohl geschehen, daß auch
ein Tellheim mit irgendeiner Soubrette anbändelt, und
daß das verliebte Geschöpf hinter ihm herläuft. Das
ergäbe keine Situation, die ein Lessing in solchem Fall
brauchen könnte. Minna muß seelisch auf derselben
Höhe stehen wie Tellheim.
Nun haben wir aber auch Minna schon in einer ko-
mischen Situation, einfach durch die zwei aus dem
Charakter Tellheims sich ergebenden Bestimmungen:
daß sie die höchste Vornehmheit des Charakters zeigen
und dabei aggressiv in der Liebe vorgehen muß.
Soll das Vorgehen einen Sinn haben, dann muß
natürlich Tellheim Minna auch lieben. Was können für
Gründe vorliegen, daß Pflicht und Ehre ihm verbieten,
dieser Liebe zu folgen, und daß Minna gezwungen
wird, ihn anzugreifen? Doch nur solche, die ihn nach
seiner Meinung der Hand Minnas unwürdig erscheinen
lassen. Das dürfen aber keine ernsten Gründe sein,
denn sonst wäre er ihrer Hand ja wirklich unwürdig.
Lessing zählt drei auf: der lahme Arm, die Ehren-
kränkung wegen der Angelegenheit der vorgeschossenen
Gelder, und die Armut. Ob wir nicht wieder die
Tätigkeit der Phantasie belauschen können, welche sich
die Möglichkeiten vorstellt, das Verworfene aber nicht
ganz fallen läßt, sondern noch nebenbei mitnimmt?
Es würde genügen, wenn Tellheim arm ist: woraus
sich denn für Minna wieder ergibt, daß sie reich sein
muß; und zwar, damit sie das Vermögen gleich zur
Hand hat, eine reiche Erbin, was ihr denn auch die
Bewegungsfreiheit verschafft, damit sie ihm ungehin-
dert durch elterliche Verbote nachreisen kann. Es
würde aber auch genügen, wenn die Ehrenkränkung
allein vorläge und im Lauf der Handlung aufgehoben
würde: was durch eine Jntrige Minnas hätte ge-
schehen können, die vielleicht besser gewesen wäre, wie
die mit dem Ring.
Rechnen wir zusammen, welche Eigenschaften sich
für Minna als nötig ergeben: Vornehmheit der Ge-
sinnung; Freiheit und Leichtigkeit des Geistes und Tem-
peraments, welche ihr erlauben, Tellheim nachzureisen;
Neichtum; Elternlosigkeit. Wenn man sich die Figur
genau ansieht, dann wird man finden, daß sie aus diesen
Eigenschaften gestaltet ist.
Daß die Handlung durch den Charakter Tellheims
bis ins einzelne gegeben ist, wird ja weniger auffallen,
als diese Gegebenheit des Charakters von Minna.
Jm gewöhnlichen Leben geschieht es ja sehr oft,
daß Handlungen von Menschen ausgehen, die von ihnen
treuherzig als Ergebnisse ihrer Uberlegung und ihres
Willens aufgefaßt werden, während der Außenstehende
genau sieht, daß sie nur die Beziehung zwischen dem
Handelnden und seinem Gegenspieler sind. Die falsche
Psychologie, die wir im Leben haben, wenden die
Menschen auch auf die Dichtung an. Sie glauben, daß
der Dichter schafft, um Charaktere zu gestalten, und daß
die Charaktere die Hauptsache in der Dichtung sind. Es
handelt sich aber auch in der Dichtung immer um Be-
ziehungen. Wenn der Punkt, von dem die dichterische
Phantasie ausgeht, eine komische Beleuchtung von Treue
und Ehre ist, dann sind damit die Charaktere von Tell-
heim und Minna gegeben.
Die gewöhnliche Auffassung hat als letzte Ursache
eine geringe Meinung von der Kraft der dichterischen
Phantasie. Sie meint, daß der Dichter irgendwie an die
beobachtete Wirklichkeit gebunden ist, daß er etwa eine
Minna im Leben kennen gelernt und der nun die
Aüge abgelauscht hat für seine Dichtung. Wäre es so,
dann wäre das Drama überhaupt unmöglich, denn daß
ein Dichter einen solchen Schatz von Beobachtungen hätte,
daß er die Personen, welche er gerade braucht, aus ihm
zusammenstellen könnte, das ist doch ausgeschlossen. Der
Dichter schöpft aus sich. Lessing hat nie eine Minna ge-
sehen, sie ist ganz seinem vornehmen Herzen, scinem
starken Geist und seinem heiteren Temperament ent-
sprungen. f704^ Paul Ernst.
irgust Halm.
Violinübung I*).
Selbstanzeige.
Wenn ich fordere, daß insbesondere der Anfangs-
unterricht sich von Grausamkeit freihalten müsse, so
pflegt mir die Antwort entgegenzutreten, ohne das gehe
es nicht, eine gewisse Strenge sei vonnöten. Jch sage
dagegen: nicht nur eine gewisse, sondern volle Strenge
walte, aber eine von edler Art; ein schönes, freudiges
Sich-Anstrengen gilt es, und daran eben sehlt es in der
üblichen Unterrichtsweise, in der anstatt wirklicher
Strenge eben Grausamkeit herrscht: so heiße ich die
Gesinnung all der öden Ubungen, die lediglich einem
Vorbereiten, und zudem einem mißverstandenen, dienen.
Der Weg durch Unmusik ist wirklich unnötig. Jch habe
es selbst erfahren, daß ein halbwegs geschickter Junge
schon nach den ersten Stunden Melodien auf der Geige
so spielen kann, daß er sich und sogar seine Neben-
menschen damit erfreut. Wie soll ich dann angesichts
dieser Tatsache all die Violinschulen nennen, die ich
kenne? Künstliche Hindernisse vor naheliegenden Zielen
— das sind sie mir, ob auch die Hemmungen methodisch
scheinen mögen und lückenlos sind. Nicht als ob ich ver-
kennte, daß mühsame Strecken zurückgelegt werden
müssen; aber sie dürfen nicht im Dunkel liegen wie
Tunnels, sondern müssen den Blick auf schöneres Gelände
freilassen und von frischer Luft bestrichen sein. Das
*) Verlag G. A. Zumsteeg, Stuttgart (Preis 5 Mk.).
Diese aber ist der dramalische Fund; in ihr kann sich
die Komik von Pflicht und Ehre restlos entwickeln, denn
die Liebe, als eines der natürlichsten und instinktivsten
Gefühle, muß ja zu den nicht natürlichen sittlichen Ge-
fühlen den stärksten Gegensatz bilden.
Es handelt sich also um den Kampf zwischen Pflicht
und Ehre einerseits und Liebe anderseits. Da Pflicht
und Ehre die gegebenen Mächte sind, welche die Festung
innehaben, so muß die Liebe angreifen.
Damit ist also ein wichtiger Charakterzug der Minna
nötig und eine wichtige Handlung von ihr.
Aber wenn ein Dichter, der selber ein Tellheim ist,
seine Natur komisch nimmt, so muß das auf der ent-
sprechenden Höhe der Gesittung vor sich gehen. Es darf
keine niedrige Liebe sein, welche einen Tellheim verfolgt.
Jn der Wirklichkeit kann es ja wohl geschehen, daß auch
ein Tellheim mit irgendeiner Soubrette anbändelt, und
daß das verliebte Geschöpf hinter ihm herläuft. Das
ergäbe keine Situation, die ein Lessing in solchem Fall
brauchen könnte. Minna muß seelisch auf derselben
Höhe stehen wie Tellheim.
Nun haben wir aber auch Minna schon in einer ko-
mischen Situation, einfach durch die zwei aus dem
Charakter Tellheims sich ergebenden Bestimmungen:
daß sie die höchste Vornehmheit des Charakters zeigen
und dabei aggressiv in der Liebe vorgehen muß.
Soll das Vorgehen einen Sinn haben, dann muß
natürlich Tellheim Minna auch lieben. Was können für
Gründe vorliegen, daß Pflicht und Ehre ihm verbieten,
dieser Liebe zu folgen, und daß Minna gezwungen
wird, ihn anzugreifen? Doch nur solche, die ihn nach
seiner Meinung der Hand Minnas unwürdig erscheinen
lassen. Das dürfen aber keine ernsten Gründe sein,
denn sonst wäre er ihrer Hand ja wirklich unwürdig.
Lessing zählt drei auf: der lahme Arm, die Ehren-
kränkung wegen der Angelegenheit der vorgeschossenen
Gelder, und die Armut. Ob wir nicht wieder die
Tätigkeit der Phantasie belauschen können, welche sich
die Möglichkeiten vorstellt, das Verworfene aber nicht
ganz fallen läßt, sondern noch nebenbei mitnimmt?
Es würde genügen, wenn Tellheim arm ist: woraus
sich denn für Minna wieder ergibt, daß sie reich sein
muß; und zwar, damit sie das Vermögen gleich zur
Hand hat, eine reiche Erbin, was ihr denn auch die
Bewegungsfreiheit verschafft, damit sie ihm ungehin-
dert durch elterliche Verbote nachreisen kann. Es
würde aber auch genügen, wenn die Ehrenkränkung
allein vorläge und im Lauf der Handlung aufgehoben
würde: was durch eine Jntrige Minnas hätte ge-
schehen können, die vielleicht besser gewesen wäre, wie
die mit dem Ring.
Rechnen wir zusammen, welche Eigenschaften sich
für Minna als nötig ergeben: Vornehmheit der Ge-
sinnung; Freiheit und Leichtigkeit des Geistes und Tem-
peraments, welche ihr erlauben, Tellheim nachzureisen;
Neichtum; Elternlosigkeit. Wenn man sich die Figur
genau ansieht, dann wird man finden, daß sie aus diesen
Eigenschaften gestaltet ist.
Daß die Handlung durch den Charakter Tellheims
bis ins einzelne gegeben ist, wird ja weniger auffallen,
als diese Gegebenheit des Charakters von Minna.
Jm gewöhnlichen Leben geschieht es ja sehr oft,
daß Handlungen von Menschen ausgehen, die von ihnen
treuherzig als Ergebnisse ihrer Uberlegung und ihres
Willens aufgefaßt werden, während der Außenstehende
genau sieht, daß sie nur die Beziehung zwischen dem
Handelnden und seinem Gegenspieler sind. Die falsche
Psychologie, die wir im Leben haben, wenden die
Menschen auch auf die Dichtung an. Sie glauben, daß
der Dichter schafft, um Charaktere zu gestalten, und daß
die Charaktere die Hauptsache in der Dichtung sind. Es
handelt sich aber auch in der Dichtung immer um Be-
ziehungen. Wenn der Punkt, von dem die dichterische
Phantasie ausgeht, eine komische Beleuchtung von Treue
und Ehre ist, dann sind damit die Charaktere von Tell-
heim und Minna gegeben.
Die gewöhnliche Auffassung hat als letzte Ursache
eine geringe Meinung von der Kraft der dichterischen
Phantasie. Sie meint, daß der Dichter irgendwie an die
beobachtete Wirklichkeit gebunden ist, daß er etwa eine
Minna im Leben kennen gelernt und der nun die
Aüge abgelauscht hat für seine Dichtung. Wäre es so,
dann wäre das Drama überhaupt unmöglich, denn daß
ein Dichter einen solchen Schatz von Beobachtungen hätte,
daß er die Personen, welche er gerade braucht, aus ihm
zusammenstellen könnte, das ist doch ausgeschlossen. Der
Dichter schöpft aus sich. Lessing hat nie eine Minna ge-
sehen, sie ist ganz seinem vornehmen Herzen, scinem
starken Geist und seinem heiteren Temperament ent-
sprungen. f704^ Paul Ernst.
irgust Halm.
Violinübung I*).
Selbstanzeige.
Wenn ich fordere, daß insbesondere der Anfangs-
unterricht sich von Grausamkeit freihalten müsse, so
pflegt mir die Antwort entgegenzutreten, ohne das gehe
es nicht, eine gewisse Strenge sei vonnöten. Jch sage
dagegen: nicht nur eine gewisse, sondern volle Strenge
walte, aber eine von edler Art; ein schönes, freudiges
Sich-Anstrengen gilt es, und daran eben sehlt es in der
üblichen Unterrichtsweise, in der anstatt wirklicher
Strenge eben Grausamkeit herrscht: so heiße ich die
Gesinnung all der öden Ubungen, die lediglich einem
Vorbereiten, und zudem einem mißverstandenen, dienen.
Der Weg durch Unmusik ist wirklich unnötig. Jch habe
es selbst erfahren, daß ein halbwegs geschickter Junge
schon nach den ersten Stunden Melodien auf der Geige
so spielen kann, daß er sich und sogar seine Neben-
menschen damit erfreut. Wie soll ich dann angesichts
dieser Tatsache all die Violinschulen nennen, die ich
kenne? Künstliche Hindernisse vor naheliegenden Zielen
— das sind sie mir, ob auch die Hemmungen methodisch
scheinen mögen und lückenlos sind. Nicht als ob ich ver-
kennte, daß mühsame Strecken zurückgelegt werden
müssen; aber sie dürfen nicht im Dunkel liegen wie
Tunnels, sondern müssen den Blick auf schöneres Gelände
freilassen und von frischer Luft bestrichen sein. Das
*) Verlag G. A. Zumsteeg, Stuttgart (Preis 5 Mk.).