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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 27.1917

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Heft7/8
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Greiner, Leo: Zwei Tiergeschichten
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Sickel, Paul: Das lyrische Erlebnis und die Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.26489#0219

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Iedenfalls blieb dem Werk trotz der günsrigsten Kritik der
einzige Erfolg versagt, der ssinem Wesen gemäß war: weiteste Ver-
breitung und allgemeine Leserschaft. Um aus der Not eine Tugend
zu machen, brachte dann der Derlag eine Auswahl von 23 Stücken
im selben Satzspiegel heraus, die als „Das kleine alte Novellenbuch"
im Preise von 3 Mk. für das gebundene Exemplar das verweigerte
Glück erzwingen sollte. Aber wo die Trompete nicht gelockt hat,
vermag es der Pfiff auch nicht: das ganze Werk ist nicht so überreich,
daß eine Auswahl anders als dürftig zu wirken vermöchte. So stehen
wir vor der schmerzlichen Erfahrung, daß ein köstlichcs Brot im
Glaskasten vertrocknet, indessen viele froh wären, davon zu esscn.
Denn diese 47 Novellen, die uns Leo Greiner aus dcr Vergessen:
heit holte, sind ein Stück unseres Volkstums, das rms nicht durch
ein Üngcschick des Verlegers vorenthaltcn werden darf.

Wir glauben ja, seitdem uns die Brüder Grimm und Musäus
die deutschen Märchcn, Arnim und Brentano deS Knaben Wunder-
horn, Schwab die Volksbücher wiederschenkten, seitdem wir das
Nibelungenlied und die deutschen Heldensagen neu besitzen, mit
unserer dichterischen Herkunft vertraut zu sein; und doch fehlt uns
das Mittclglied zwischcn der geretteten Sagen- und Liederwelt
und unserm zum Selbstgefühl in der Reformation «rweckten
bürgerlichen Dasein. Vom ganzen Mittelalter, das wir immer
stärker als Hochzeit germanischer Cmpfindung ahnen, ist uns viel
zu wenig geläufig, als daß wir darin ein wirkliches Schaubild des
Lebens hätten, das die Kaiserdome und gotischen Münster, die
Rathäuser und Kaufhallen baute und uns in der Hinterlassenschaft
seiner bildenden Kunst den Glanz eines unermeßlichen Rsichtums
zeigt. Cs fehlt uns die bürgerliche Welt, aus der schließlich die
Wunder der mittelalterlichen Welt wachsen mußten, die bürger-
liche Wclt als der damalige Zustand der Volksseele; denn Kirchen
und Klöster in Ehren, nicht sie stellen den Lebensboden der mittel-
alterlichen Kultur vor, sondern die volksreichen Städte, und nicht der
Geisiliche, sondern der bürgerliche Mensch ist ihr wirklicher Träger.

Von dem mittelaltcrlichen Bürger im weitcsten Sinn erzählen
die Novellen, deren Schönheit Leo Greiner aus unbeholfener
Reimerei in schlichte Prosa gebracht hat; und wer die siebenund-
vierzig Stücke las, weiß, welcher Ärt die Menschen waren, die in
den Domen des deutschen Mittelalters die Messe hörten, in den Kauf-
hallen handelten und in den Rathäusern ihren Prunk zeigten.
Freilich kann es dem Kenncr nicht lange verborgen bleiben, wie
unbesorgt sie aus dem allgemeinen Schah der mittelalterlichen
Novellistik schöpfen und von der Legende bis zum Liebesabenteuer
mehr oder weniger abhängig sind; aber eben der Kenner weiß
ja auch, daß der Schauplatz der mittelalterlichen Welt das gesamte
Abendland war, daß die Fahrenden als die Litcraten des Bürger-
tums sich in ganz Europa heimisch fühlten. Deutsch an diesen
Novellen ist also meist nur die Auffassung und Derarbeitung der
novellistischen Motive in der eigenen Sprache; gerade in dieser nur
formalcn Absonderung aber ergibt sich ein Reiz für uns moderne
Leser, der weit über das literarhistorische Jnteresse hinaus- und tief
ins Völkische hineinführt. Ein Motiv bei Boccaccio oder einem
Deutschen, das ist nicht nur sprachlich, sondern bis in den Grund
der Empfindung hinein ein Zweicrlei; und durchaus andere Cigen-
schaften als die gem angcführte Unbeholfenheit und die Derbheit
heben die deutsche Darstellung ab.

Cs liegt nicht im Rahmcn dieser Anregung, hierübcr cingehend
zu sprechen; wichtiger als ihre deutsche Besonderheit ist jedenfalls
dic dichterische Kraft der Gebilde, die nichts als irgendeine mcrk-
würdige Begebenheit vorzutragen scheinen, in diesem Dortrag
aber den Instinkt der Epik auf eine Art dartun, die nur an den großen
Leistungen der Weltliteratur gemessen werden kann. Wcnn die
Crzählungskunst bei uns nicht so kläglich in jenen Mischmasch von
Schilderung, Dialog und lyrischer Ausschweifung geraten wäre,
den wir jahraus jahrein in den Büchern unserer „beliebten Autoren"
angerichtet erhalten, könnten uns diese mittelalterlichen Novellen
gleichgültiger sein: so aber müssen wir danach greifen als eincm
entbehrten Lebensbrot.

Darum sollte es nicht sein, daß die Greinersche Ausgabe unter
den trockenen Kränzen eines kurzen Ruhmes begraben bleibt; aus
den beiden überstreckten Bänden ließe sich in sinngemäßer Druck-
anordnung ein handlicher Band machen, der zu einem wesentlich
niedrigeren Preis vielleicht doch einzubürgern wäre. Dem deut-
schen Volk würde dadurch ein Schatz gehoben und seiner Erzählungs-
kunst ein Vorbild gegeben, das fürs erste noch blutnötig ist. Vorder-
hand rate ich sehr, „das kleine alte Novellenbuch" zurHand zu nehmen,
und, wer das Geld nicht scheut, die schöne Gesamtausgabe. S.

riegsbriefe deutscher Studenten").

Dieser sachlichstc allcr Kriege hat einen Schwall phrasen-
haften Geredes erzeugt, der peinlich und unwürdig ist. Wie peinlich
und unwürdig, das wird einem ganz deutlich, wenn man dieBerichte
der Mitkämpfer liest. Sofern sie nicht ganz schweigen, sprechen sie
schlicht, knapp, sehr sachlich und sehr wenig pathetisch, dafür sehr
gemesscn, einfach, bcscheiden.

Unwillkürlich drängen sich dicss Bemerkungen auf, wenn man
die Kriegsbriefe deutscher Studenten liest. Was echter, phrasenloser,
stilltätiger Idealismus ist, das kann man hier sehen. Wie die ge-
bildete Iugend unseres Volkes den Krieg erlebt, ihr Crlebnis formt
und deutet, das kann man nirgends so klar und schön v erfolgen,
wie in diesem schmalen, schlichten Bändchen. Cs ist erschütternd,
wenn mitten aus Beschreibungen schrecklichster Not des Leibes und
der Seele in einem jungen Mannesherzen der cwig-verbindliche
Wert der Idee aufsteigt, ihm eins und alles wird, Rechtfertigung
und Zuversicht zugleich. Dies entwürdigte und entweihte Wort
gewinnt eine neue Würde und Macht, wenn cs im Augenblick des
Todes neu erlebt wird. Und die Briefschreiber, welche von der
Gewalt dsr Idee schreiben, sie haben dem Tod ins Angesicht ge-
sehen und man fühlt unmittelbar aus der Gewaltihrer Sätze heraus:
es ist kein Wort, das sie leer sagen, sondern ein tiefes, ewiges Ge-
fühl ist Wort geworden.

Vom Inhalt der Briefe sei hier nichts gesagt: er ist unsagbar,
bekannt den Tatsachen nach, geheimnisvoll durch die Macht des
Erlebnisses. Aber auf eines sei hingewiesen: diese Briefe deutscher
Studenten gehören zu dem Schönsten, was wir in deutscher Prosa
haben; alles Beste unserer Sprache, ihre Sinnlichkeit und An-
schaulichkeit, ihre Macht und Würde ist in diesen kunstlosen Briefen.
Das unendliche Crlebnis treibt aus den Menschen die höchste Span-
nung der Sprache heraus und so wurden Studenten zu Mcistern
der Sprache. Wer sich in den Bann dieses Büchleins begibt, für
dessen Entstehung wir alle, die wir Deutsche sind, Prof. Witkop
dankbar sein müssen, der wird tisf ergriffen bis zur letzten Seite
lesen. Ich weiß mir nichts Besseres, um dem Leser eine Anschauung
von diesen Briefen zu geben, als einen beliebig herausgegriffenen
Brief an den Schluß zu setzen:

„Wir lagen zur Reserve. Es hieß, Iwangorod sollte gestürmt
werden. In Anbetracht der ungeheuren Derluste kam an uns der
Befchl, nach Warschau abzurücken. Es waren genug frische Truppen
um Iwangorod angekommen.

So lagen wir lange auf der Wiese. Alle waren am Ende ihrer
Kräfte und nahmen die Nachricht von der kurzen Ruhe wie eine
letzte notwendige Rettung auf. Glücklicherweise war seit langer
Zeit die Sonnc am Himmel. Ich erwartete den Sonnenausgang
in stiller Weihe und las für mich. Dann kam auch Post, seit vierzehn
Tagen wieder. Ich war sehr glücklich. Die Schokolade war nach
den endlosen Entbehrungen ein Labsal. Schöner noch die geistige
Verbindung: gab es doch Stunden in der letzten Ieit, die in der
Erinnerung licgen werden wie Stockungen des Herzens, wie
schwarze Wellcn, die nicht mehr wegzulcugnen sind. Kindheit und
Jugend ist unwiederbringlich vorübcr. Die Zeit der Überschattung
hat begonnen." (V. K.) vr. Werner Mahrholz.

as lprische Erlebnis und die Gegenwart.

Der greise Goethe hat einmal Eckermann gegenüber von
der Schwierigkeit des Lesens gesprochen: „Jch habe achtzig Iahre
dazu gebraucht und kann noch jetzt nicht sagen, daß ich am Ziele
wäre." Seine Worte bezogen sich zwar zunächst auf wissenschaftliche
Werke; aber sie haben ganz allgemeine Geltung. Was man gewöhn-
lich Lesen nennt, ist ein schnelles, oberflächliches Hinstreifen über die
Sähe und vermittelt nur cinen ganz dürftigen, allgemeinen Begriff
des Inhalts. Für viele Fälle mag das auch vollständig genügen.
Das „Lesefutter" unseres Durchschnittspublikums ist fast ausschließ-
lich der Roman, der eher „verschlungen" als gelesen wird. Denn
die Teilnahme ist hier im wesentlichen rein gcgenständlich; nran ist
gespannt, wie die Sache ausgehen rvird; und dazu bcdars es frei-
lich nur einer Kenntnis der hauptsächlichsten Tatsachen. Da die
Aufmerksamkeit von dem Stosflichen ganz in Anspruch genommen
wird, bleibt für das eigentlich Künstlerische, für die Schönheit des

*) Herausgegeben von Prof. vr. Philipp Witkop im Verlag
F. A. Perthes, Gotha, 114 Seitcn, Preis 1 Mk.
 
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