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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 27.1917

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Heft 6
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Steffen, Albert: Aus: "Die Bestimmung der Roheit"
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Steffen, Albert: Aus: "Der rechte Liebhaber des Schickslals"
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https://doi.org/10.11588/diglit.26489#0161

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Die Bestimmung der Roheit.

anders zu ihm kommen, als wenn ich mich besiege, als
wenn ich ebenso tapfer zu sterben vermag wie er . . ."

Ms ihre Seele diesen Geistesblick getan hatte, ent-
wich sie dem Körper. Das Madchen sank ohnmächtig hin.

Man rief nach dem Arzte und dem Kaufherrn. Der
Arzt ordnete den Transport in ihr Heimwesen an, da
dieses Häuschen nicht weiter entfernt war als ein anderes,
und in der Fabrik kein ruhiger Raum gesunden werden
konnte. Auf dem Wege dahin sagte er dem Kaufherrn,
daß die Lebenskräfte vollständig erschöpft seien. Die
äußere Ursache liege in Überarbeitung. „Die innere
in mir!" mußte sich der Kaufherr sagen. Er fühlte, wie
er das Mädchen mit den höchsten Seelenkräften liebte.
Ein furchtbarer Schmerz fing in ihm zu arbeiten an.

Man brachte sie in die Wohnstube, die sehr dürftig
ausgestattet war, in welcher aber eine große Reinlich-
keit herrschte. Von der einen Ecke schimmerte die blanke
Schüsselbank herüber. Aus der andern strömte ein
blauer Ofen, umbeigt mit hellem Buchenholz, die frischeste
Wärme aus.

Man legte sie auf das Nuhebett. Die drei Brüder
stellten sich sofort an dessen unterem Ende auf. Der
alteste, ein zehnjähriger kluger und energischer Knabe,
hielt die kleineren, von denen sich das eine auf kindliche
Weise der neuen Umgebung allzu lebhaft hingab, das
andere aber mit seinen herabgezogenen Mundwinkeln
jeden Augenblick in Schluchzen ausbrechen konnte, in
Ordnung und schaute inimerfort nach den Augen der
Schwester, wie wenn er einen Befehl erwartete.

Der Schwester großes innerliches Auge aber war
von ihnen weggewandt wie zu etwas, das zu ihren
Häupten stand. Mit diesem Wesen schien sie innere
Gespräche zu führen, von denen aber nur einzelne Worte
über ihre Lippen kamen. Soviel war deutlich, daß sie
sich am Webstuhl glaubte und sich mühte, ein Gewebe
aus grünem, gelbem und blauem Garne zu vollenden.
Endlich atmete sie auf. Es war fertig geworden. Sie
fragte: „Gehört dies schöne Kleid nun mir?"

Sie hörte, daß es „ja" in ihrer Seele tönte, lächelte
deshalb und wollte schon erlöst das Auge schließen.
Da fiel es auf den Kaufherrn, der an ihrer Seite stand.

Obwohl sie sich kaum bewegte, war ihm, als ob sie
ganz nahe zu ihm heranrückte.

„Nimm du es," sagte sie ganz leise und sank zurück.
Die Lider fielen ihr zu.

Jn diesem Augenblick erschien auf ihrem Antlitz
ein Leuchten überirdischer Art.

Dem Kaufherrn aber kamen die Worte in den Sinn,
die er gelesen hatte, als er zum ersten Male von der
Leere übersallen worden war: die Farben sind Taten
deS Lichtes, Taten und Leiden.

Jetzt wußte er, daß diese Leere nicht das Jnnerste war.

Als er alleine seinem Hause zuging, mußte er sich
fragen: „Warum leuchtete ihr Antlitz so?"

Es kam die Antwort: Sie hatte sich, indem sie am
Drilchtuch wob, ein geistiges Kleid gewirkt aus der
Geduld, der Sorgfalt und der höchsten Menschenliebe.
Sie schenkte es dem, der sie vernichtete, und wurde
durch die Opfertat zum Lichte selbst, woraus die selige
Dreiheit der Farben stammt. Sie vermahlte sich durch
die höchste menschliche Tat dem göttlichen Geisteslicht.

Diese Gedanken gingen wie ein Sturm durch seine
Seele. Als er wieder ruhig wurde, war er ein anderer
Mensch geworden. Mit dem sicheren Bewußtsein, daß
er es zu Ende führen würde, durfte er sich folgendes
vornehmen:

„Jch will nach jenen Eigenschasten streben, die mein
Weib erworben hat. Denn Else ist mein Weib, für sie
hätte ich leben und sterben dürfen, wenn ich nicht töricht
und blind gewesen wäre. Nie mehr werde ich lügen,
nie mehr wissentlich einen Menschen schädigen, keinem
mehr die Treue brechen."

Er nahm die drei Kinder zu sich.

Sein Leben war nun so, daß man in ihm einen
Arbeiter erblicken konnte wie in den andern und daß
er sich von diesen nur dadurch unterschied, daß er ein
schwereres Amt zu verwalten hatte, nämlich das des
gerechtesten Vaters. Als solcher fühlte und handelte
er von diesem Tage an.

Wenn er den ganzen Tag für andere gedacht und
gearbeitet hatte, kam jener süße Augenblick der Ruhe,
der ihm allein gehörte. Was tat er dann? Er suchte
die höchsten Geister auf, die je auf Erden uns Göttliches
vermittelt haben. Er las die erhabensten Menschheits-
dokumente. Durch die selbstlose Hingabe des Tages
über war seine Seele empfänglich geworden, jene
Schriften, die er früher hatte fliehen müssen, auf sich
wirken zu lassen. Jetzt durfte er in der heiligen Empfin-
dung, die sie ihm einflößten, ungestört verweilen. Und
wenn er das recht innig tat, dann tauchten aus ihr
wunderbare Länder auf.

„Jch fühle eine Geisteswelt," sprach er zu sich. „Jn
diese Geisteswelt trete ich nach meinem Tode mit be-
wußter Seele ein. Dahin will ich alle Menschen führen,
die ich kenne. Auch jene, denen diese Welt auf Erden
noch verschlossen blieb. Wenn ich sie erreichen kann,
dann soll sie jedermann erreichen. Denn keiner stand so
tief wie ich. — Jch aber komme hin, weil mir mein Weib
verzieh und so die Straße bahnte!"

Er fühlte sich im Jnnersten mit ihr vereint.

* H

-i-

Aus: „Der rechte Liebhaber des Schicksals" von
Albert Steffen*).

Viertes Kapitel.

Jch darf nichts beschönigen, darf aber auch nicht
ungerecht gegen mich sein.

Mit einundzwanzig Jahren kam ich zum ersten Male
in eine Großstadt (nicht in diese, worin ich jetzt wohne),
um hier mein Studium zu beginnen.

Jch sah mir noch am gleichen Tag die Straßen an.
Es regnete. Alles war trüb und schmutzig. Die Menschen
hatten einer wie der andere denselben gleichgültig-
hastigen Gang. Jch fühlte mich sofort von einer inneren
Ode befallen. Bei einer Plakatwand stand ich still, zu
sehen, wo ich den Abend zubringen könnte. Jch las einen
Anschlag, der eine Versammlung gegen den Alkohol
zusammenrief. Ein Mann mit Leimkessel und Pinsel
kam und klebte eine Flaschenbiermarke darüber.

*) Verlag von S. Fischer, Berlin.

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