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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 27.1917

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Heft7/8
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Ziegler, Leopold: Bildung: ein Gespräch
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https://doi.org/10.11588/diglit.26489#0193

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ildung.

Ein Gespräch von Leopold Aiegler.

Der Schriftsteller: Sie schauen bekümmert, lieber
Freund? Hoffentlich hat dies keinen persönlichen Anlaß?

Der jüngere Gslehrte: Wollte der Himmel, es
hätte nur einen solchen. Aber Sie wissen es ja. Man hat
in diesen Aeitläuften Augenblicke, wo es mehr Seelen-
kraft kostet, das Leben weiter zu führen, als mit ihm
Schluß zu machen. Jch frage mich manchmal, woher den
Antrieb nehmen, den nächsten Tag zu überstehen.

Der Schriftsteller: Es ist so. Auch ich bin nicht
selten wie zugeschüttet von dem Gefühl, der Untergang
der Welt sei nah und unaufhaltsam. Ja, wenn ich auf-
richtig sein soll, verfolgt mich geradezu die Einbildung,
der Untergang sei eigentlich schon über uns herein-
gebrochen. Menschheitsdammerung. Jüngstes Gericht.
Völker-Höllensturz. Ach, wer verstünde, was sich heute
mit uns zuträgt! Die Aeichen sind eindeutig und fürchter-
lich: Evangelium nach Matthaus, Kapitel vierundzwanzig,
nicht wahr? Heute morgen erhielt ich drei Briefe, zwei
aus dem Binnenland, einen aus der Front. Sie sind
von drei Männern geschrieben, deren jeder in seiner Art
für ausgezeichnet tüchtig gelten kann. Sie gelesen,
drängte sich mir die Frage auf, ob in dieser Stunde auch
nur ein einziger von sämtlichen Bewohnern dieses ver-
gifteten Gestirns wirklich noch gesund sei? Jch fürchte:
keiner. Aber schließlich hilft dies nichts. Noch leben wir,
— wenigstens was man so leben heißt. Und unter allen
Umständen heißt leben hosfen bis zum letzten Hauch.
Nur eins ist merkwürdig. Selbst dieser gespensrisch
ärmliche Lebensrückstand ist nämlich seit geraumer Wsile
schon eingeschrumpft auf ein Bewußtsein ohne wirkliche
Gegenwart mehr. Gewaltsam verhärten wir uns aus
einem instinktiven Erhaltungstriebe heraus wider die
Eindrücke des Augenblicks, um dadurch gleichsam die
geistige Vorwegnahme einer Wunjch-Aukunft bis zur
Leibhaftigkeit zu steigern. Wir leben in und von ,kom-
menden DingeiU, finden Sie nicht? Wir genießen im
voraus der ersehnten Aukunft einer würdigeren Mensch-
heit wie eineS Sakramentes: hingegeben, feierlich und
glaubensgewiß. Eine beinah wilde Zeitflucht in irgendein
tausendjähriges Reich, ein Chiliasmus von mittelalter-
licher Eindringlichkeit!

DerjüngereGelehrte:Höchstsonderbar,wenndies
in Wahrheit zuträfe. Und fast will michs bedünken: es
trifft zu. Zum mindesten sind wir, wo vielleicht auch
noch nicht völlig ungegenwärtig, doch bereits in fort-
geschrittenem Grade vergangenheitslos. Fast täglich
ertappe ich mich bei der Wahrnehmung, daß unser eigent-
liches Selbstbewußtsein ungefahr mit dem Jahre Neun-
zehnhundertundvierzehn beginnt. Wen schiert noch
ernstlich, was vorher war? Vielleicht datiert man einst
von jenem Monat, da der Stern des Unheils über Lander
und Meere brünstig aufging, eine neue Ieitrechnung.
Etwa wie man früher von den ersten Spielen zu Olympia,
von der Gründung der Stadt, von der Geburt des
Nazoräers datiert hat. Wobei freilich nicht außer Bs-
tracht zu lassen wäre, daß ein ähnlicher Versuch der
Kalendermacherei in der französischen Revolution da-

Bildung.

neben geraten ist, — ein philosophischer Wink der Welt-
geschichte, wie mir scheint.

Der Schriftsteller: Jmmerhin ist dieser Vergangen-
heitslosigkeit, von der Sie sprechen, schier die gleiche Wir-
kung eigentümlich wie der Gegenwartslosigkeit, von der
ich sprechen wollte. Und diese Wirkung ist schlechterdings
wohltätig. Beachten Sie einmal, wie mit jeder neuen
Achsendrehung dieses Urnebelwirbels insbesondere die
letzte Vergangenheit unserer Geschichte stets ferner und
ferner rückt. Beachten Sie, wie vor allem der Abschnitt
1870 bis 1914 schon heute in einen Abgrund von lauter
Daunen weich und tief versunken ist. Was die Aukunft
uns beschert, oder richtiger, was unser Wille, unsere
Verantwortlichkeit der Aukunft bescheren, wissen wir
heute nicht. Aber eins wissen wir trotzdem mit genügen-
der Bestimmtheit: daß sie sich von jenem deutschen
Iwischenakt des neuen Reichs ungleich schärfer abheben
wird, wie dieser sich von dem ehrwürdigen Deutschland
unserer Träume abgehoben hat. Deute ich mir manche
Aeichen recht, so ist es sogar eine Regung der Erleichterung,
etwa wie nach der Verabschiedung eines aufdringlichen
Besuches oder wie nach einer überstandenen Gefahr, die
unserer nächsten Vergangenheit gegenüber fühlbar wird.
War damals doch ein fremder, unbändiger, weltsüchtiger,
frecher und genießerischer Sinn in uns gefahren, den ich
den Geist der Einfuhr- und Ausfuhrstatistik nennen möchte.
Jn entscheidenden Hinsichten sind wir nicht mehr wir
gewesen, sind wir uns selbst abtrünnig geworden, wenn
vielleicht auch nur unter dem Druck unwiderstehlich all-
gemeiner Weltverhaltnisse; —gleichviel. Wir waren von
der Richtung unserer Deutschheit abgebogen, und wenn
heute die berühmte ,Neu-Richtung^, freilich in einer
halben Verwelschung des Wortes und vielleicht nicht
des Wortes allein, das Feldgeschrei der Parteien ge-
worden ist, so liegt für mich darin etwaü wie ein nachtrag-
liches Eingestandnis jener Fehlrichtung eingeschlossen.
Die Mehrzahl der unsaglich liebenswürdigen Außerungen
des früheren Deutschland waren — hoffentlich nur vor-
übergehend! — ausgefallen, ähnlich wie in einem von
Nervenstörungen ergriffenen Körper gewisse Bewegungen
und Verlautbarungen ausgefallen sind.

Der jüngere Gelehrte: Wir selber dürfen unS
dies eingestehen unter dem Vorbehalt, daß diese seelische
Falschrichtung nicht etwa zu den besonderen deutschen
Schändlichkeiten und Nücken gehört, deren uns die über-
reizte Einbildungskraft unserer Feinde mit der Beharr-
lichkeit eines Verfolgungswahnsinnigen bezichtigt. Denn
selbstverständlich handelt sichs hierbei um einen Vorgang
von allgemeingeschichtlicher Geltung. Wenn er bei uns
zur Ieit der Reichsgründung, die leider auch sonst unsere
Gründerzeit geworden ist, fühlbarer wie anderwärts in
Erscheinung getreten ist, so doch nur deshalb, weil er
uns von allen beteiligten Völkern am wenigsten gemäß
war. Ungefähr nach der alten Erfahrung, daß in einem
enthaltsamen Manne, in einem keuschen Weibe der Ge-
schlechtsrausch zeitweilig heftiger zu toben pflegt wie im
gewohnheitsmäßig Unzüchtigen. Dazu kommt noch,
daß die edleren Vertreter unserer Gemeinschaft von dieser
Abtrünnigkeit ungleich harter betroffen wurden wie
anderswo: mithin auch über ihr eigen Volk ungleich
härter aburteilen mußten.

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