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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 27.1917

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Heft 4
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Mahrholz, Werner: Otto Stoessl: Betrachtungen über einen modernen Romantiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.26489#0099

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tto Stoessl.

Betrachtungen über einen modernen Romantiker.
Von Or. Werner Mahrholz.

1.

Der Dichter der Gegenwart hat es in vielem Be-
tracht schwerer als sein Vorfahre; denn die Geordnet-
heit und Sicherheit des modernen Lebens erzeugt im
Durchschnittsmenschenleben eine gewisse Sattheit und
Trockenheit, die durchaus unpoetisch ist. Nicht mehr wie
in ungeordneteren Aeiten treibt das Leben selber dem
Dichter seine Stofse in ungeheurer Fülle zu, so daß er
nur als treuer Gestalter und meisterlicher Former die
ihm gebotenen Schätze des Lebens zu Kunstgebilden
auszuprägen braucht. Die bunte Fülle der Schicksale,
die starke und farbige Erscheinung sich offen und un-
versteckt äußernder Leidenschaften, die bewegten Um-
triebe gesetzloser Parteien und Menschen will die Ord-
nung unseres geregelten Lebens nicht dulden und so
erschwert unsere Lebensordnung selber dem Dichter
seine innere Eristenz, indem sie ihm die unendliche und
kaum zu bewältigende Aufgabe zuweist, zugleich den
Stoff der Dichtung und ihre Form zu schaffen.

Das Gefühl von der petischen Ode der modernen
Eristenz ist das eigentliche Grunderlebnis des Wiener
DichterS Otto Stoessl ge>vesen und so ist das eigentliche
Thema seiner Dichtung die Reaktion auf diese poetische
Dürre: die Lust und die Suche nach dem Abenteuer.
Jndem sich Stoessl auf diesen Weg begab: die Alltag-
lichkeit des geordneten Daseins durch den goldenen Glanz
des Abenteuers zu beleben und recht eigentlich sich das
Leben im Aufsuchen des Abenteuers lebenswert zu
inachen, geriet er in die Gefahr, in eine negativeRomantik
zu verfallen, wenn er das Abenteuer und seine Träger
etwa ernst nahm. Jeder Romantiker, dem seine Roman-
tik ernst >vird, gerät in diese Gefahr, unfreiwillig lächer-
lich zu werden: Don Quichote ist nicht zu Unrecht der
eigentliche Typus von ewiger Gültigkeit, den der große
Humorist am Beginn unserer Lebensordnung durch-
litten und gestaltet hat. An Wedekind, der seine aben-
teuernden Helden ernst nehmen und sie zu wahren
Heroen der Menschheit aufblasen möchte, erkennt man
die eigentliche Unfruchtbarkeit und Dürre eines ernst-
gemeinten Don-Quichottierens. Wedekind fehlt der
Abstand von seinen Geschöpfen, die so notwendige Über-
kegenheit, um sie aus krassen Satirenfiguren und Lite-
ratennotschreien zu humoristischen Personen von typi-
scher Bedeutsamkeit zu erheben. Gerade indem Stoessl
chs geborener Romantiker die Reste des Abenteuers
in der modernen Welt aufzusuchen sich bemühte, mußte
er, wollte er nicht einer fruchtlosen Literaten-Romantik
verfallen, das so nötige Gegengewicht einer soliden und
iüchtigen Vernünftigkeit sich erwerben oder besser be-
^ahren. Gerade der Gestalter ertrenier Schicksale
son der Peripherie der Gesellschaft bedarf dieser inneren
^ernunft eines einheitlichen, in sich gegründeten Welt-
bildes, in welchem alle diese erhöhten oder erniedrigten
^istenzen einen doch noch vernünftigen Sinn durch den
Iusammenhang mit dem Gesamten des Weltwesens,
uud sej es als seine Negation oder Brüskierung, finden

und zivar als Bruchteile und abgesprengte Vorposten
des einen, verbundenen und in einem tiefsten Grunde
solidarischen Menschenwesens.

Dem romantischen, durch die unpoetische Ode der
modernen Welt gequälten Pessimisten steht also in Stoessl
der vernünftige Mensch gegenüber, welcher durch innere
Ruhe, Heiterkeit des Gemüts und festen Willen sich über
die klägliche Alltäglichkeit erhebt und aus der erlangten
Freiheit heraus sie mit lächelnder Überlegenheit dar-
stellt. „Fortan schloß er sich in seine eigene schützende
Einsamkeit ein, beobachtete, lernte und wanderte allein,
wie er von je das Treiben der Welt als eine Folge von
Bildern an sich vorüberziehen zu lassen geliebt hatte, die
eigens für den betrachtenden Dichter so gemalt und er-
funden worden." („Morgenrot" S. 273.) Mit diesen
Worten umschreibt einmal Stoessl selbst den hier ge-
meinten Zustand innerer Freiheit und Heiterkeit, be-
trachtsamer Weltüberlegenheit und lächelnder Einsamkeit.

Damit nicht genug, muß doch mit wenigen Strichen
der eigentliche tragende Grund dieser weltheiteren Pessi-
misten-Eristenz angedeutet werden, um den Umfang
und die Iusammensetzung des Seelischen und Geistigen
in Stoessls Humor zu begreifen. Der enttäuschte und
resignierte Romantiker mit seinem tiefen Hang zum Aben-
teuer speist seine innere Vernünftigkeit aus zwei un-
erschöpflichen Quellen, einer seelischen und einer geistigen:
die seelische Quelle ist verzeihende Weltliebe, welche noch
liebt, wenn sie straft und tadelt, und die sich aufbaut auf
dem tiefsten Erleben der Einheit alles Menschenwesens;
die im Hochstapler das Verächtliche wohl sieht und doch
lächelnd sich an die Brust schlägt: „Auch du hast von
jenem ein Teilchen in deiner Seele." Die geistige Quelle
aber ist eine überlegende und überlegene Vernunft,
welche von der äußersten Peripherie des Lebens die Ver-
bindungslinien zum Mittelpunkte alles Lebens findet,
welche das ganze Menschenwesen als einen einheitlichen
Stamm mit unzähligen Ästen und Astchen, Blättern,
Blättchen und Knospen auffaßt und so zu jedem Ver-
worrenen, Zufälligen und Dunklen jenes letzte leitende
Fädchen findet, wodurch sich Iufall zum Schicksal knüpft
und bindet, Unsinn zum Sinne, Chaos zum Kosmos
wird. Bald stellt sich dem Dichter diese Einsicht ins Welt-
wesen unter dem Bilde der Generationen dar, in denen
„der Einzelne nicht als Einziger gilt, vielmehr der Stamm
als langsam weiter wachsendes unsterbliches Wesen, das
immer neue Ringe ansetzt und oben jährlich neu laubendes
Grün", bald unter dem Bilde einer weitverbreiteten
Familie, von der es einmal heißt: „Wir sind ein Stamm,
wir gehören zusammen, in einem Boden wurzeln wir,
wir sind aber weit gewachsen und unsere Aste reichen fern
hin, >vo immer aber einer treibt, in Wien, draußen im
Gebirge oder hier in Schwarzwasser und wer weiß, wo
sonst noch in der Welt; uns allen bleibt vieles, das Beste
gemeinsam ... Jch bin, noch so einsam, doch in keinem
Land und an keinem Tag wirklich allein, ich kann von
meinem Ast nicht fallen, ohne daß es mein Stamm
spürt, dem ich zugehöre, und mit ein paar Menschen
sind wir zusammen ein höheres lebendes Wesen und be-
stehen. Wir verzweigen uns über die ganze Welt und
haben unseren eigenen Schatten." („Morgenrot" S. 107.)
Am schönsten aber hat der Dichter diesen tiefen Iu-



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