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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0016

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Das Mittelalter.

römischen Reichs, und die gleiche Religion hilft dazu daß Italien,
Frankreich, Spanien, England und Deutschland sich in beständiger
Wechselwirkung entwickeln, daß in gemeinsamer Arbeit eine gemein-
same Bildung und Gesittung gewonnen wird. Der romanische und
gothische Baustil wie das Ritterepos und die Liebeslyrik lassen
dies am deutlichsten erkennen. Man sagte im Mittelalter Deutsch-
land habe das Reich, Italien die Kirche, Frankreich die Wissen-
schaft; Frankreich hatte auch die Initiative im Ritterthum und
in seiner Dichtung wie in der Scholastik; der ans Neues sinnende
und zugleich formgewandte Geist des Volks, in welchem keltische,
römische und deutsche Elemente sich durchdrungen, begann die Kreuz-
züge und stand dadurch ans der Höhe der Zeit, während Italien
und Deutschland in vielhundertjahrigem Ringen um der Ideale des
Kaiser- und Papstthums willen ihre reale Kraft verbrauchten und
lange nicht zu der staatlichen Einigung und Verfassung kamen die
ihnen gemäß ist, und zu der gerade unsere Gegenwart endlich be-
deutende Schritte thnt. Aber ans dem Standpunkte der Geschichte
des Geistes erfreuen wir uns der edlen Früchte jener deutsch-
italienischen schicksalvollen Beziehungen: in der Malerei gehen beide
Nationen voran; Dante, Michel Angelo, Rafael wären ohne die
Einwirkung des Germanenthnms ebenso wenig dort erstanden, als
hier Mozart's Don Juan, Goethe's Iphigenie und Cornelius'
Fresken ohne den Einfluß Italiens; und Deutschland gab der Welt
die Reformation, Italien den Humanismus und die Kunst der
Renaissance.
Die mittelalterliche Bildung schreitet fort indem sie von einen:
der drei Stande zum andern gelangt: die Geistlichen, die Ritter,
die Bürger bezeichnen damit die drei Epochen, nach denen die
Kunstgeschichte sich gliedert. Die Lyrik des Gemüths, der Minne-
gesang und das malerische Princip walten vor, wenn auch zunächst
noch nicht das individuelle, sondern das gemeinsame Leben, Fühlen
und Denke:: sich in der Architektur nnd in: Epos ansprägt. Bei
diesen: letzter:: unterscheiden wir das nationale, wie das französische
Rolandslied, den spanischen Cid, die deutschen Nibelungen, von dem
höfischen oder der über Europa verbreiteten ritterlichen Knnst-
dichtung. Hier bei der Arthur-, Gral- und Tristansage werde ich
den Satz durchführen daß die Kelten die Stofferfinder sind, die
Romanen die poetische Form geben, die Germanen eine ideale Ver-
tiefung durch Seelenmalerei und Gedanken hinzufügen.
 
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