Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0283

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Weltliche und religiöse Lyrik der Geistlichen. 269
Gemütszustände. Selbst das Lied der Nibelungen spielt diese
Farben durch alle Töne, vom Anhauch der schüchternen Liebe bis
zum Erglühen des Zorns und dem Schrecken der auch den Hel-
den entfärbt." — Wie der Mai die Erde mit bunten Blumen
schmückte, so lud er auch die Menschen ein daß sie in glänzender
Tracht und Hellem Schmuck anszogen ins Freie und heitere Feste
feierten, wo der Ritter im Turnier Kraft und Geschick bewährte,
und die Dame den Preis des Sieges spendete. Sonnenglanz,
Waldesgrün, Liebeslied und Reigentanz bilden' ein Ganzes der
Sommerlust, Sang und Klang entbinden die Freude der Bewe-
gung, und die zauberischen Weisen der Tarantellen heißen rothes
oder grünes Tuch, je nachdem sie leidenschaftlich wild oder idyl-
lisch mild erklingen; so waltet das innigste frischeste Naturgefühl
im Leben wie in der Dichtung.

Weltliche und religiöse Lyrik der Geistlichen.
^ Der lyrische Zug, der die ritterlichen Troubadours und
Minnesänger zu Herolden einer neuen Bildung machte, trieb auch
die seitherigen Träger der Cnltur, die Geistlichen zum Gesang;
sie bedienten sich der lateinischen Sprache fort, aber je mehr das
eigene Herzensgefühl zum Liede begeisterte, desto mehr drängte es
zum unmittelbaren Ansdruck in der heimischen, der französischen,
deutschen, italienischen Zunge, und die volksthümlichen Laute
brachen oft mitten in der fremden Umgebung zuerst naiv, dann
mit bewußtem Wechsel lateinischer und vaterländischer Verse her-
vor. In einer Briefsammlung des Mönchs Wernher von Tegern-
see (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts) schreibt die Geliebte
noch lateinisch: „Du allein bist mir ans Tausenden erlesen, du
allein bist in das Heiligthnm meines Geistes ausgenommen, du
allein bist mir Genüge statt allem, wenn du dich nämlich von
meiner Liebe, wie ich hoffe, nimmer abwendest. Wie du gethan
hast habe auch ich gethan, aller Lust ans Liebe zu dir entsagt;
an dir allein hänge ich, auf dich habe ich alle meine Hoffnung
und mein Vertrauen gesetzt." Dann aber schließen die herzigen
deutschen Reime:
 
Annotationen