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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0203

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Der romanische Stil. Architektur.

189

Der romanische Stil in bauender und bildender MM.
T. Architektur.
Im Weltalter des Gemüths ist ihrem Begriffe gemäß unter
deu bildenden Küusteu die Malerei die tonangebende; auch kommt
sie in Michel Angelo, Rafael, Tizian zu einer Vollendung welche
der Blüte hellenischer Plastik ebenbürtig ist, und herrscht und
erfreut außerhalb Italiens durch van Ehck, Dürer, Holbein,
Rubens und Murillo bis in das 17. Jahrhundert. Sie keimt
und wächst im eigentlichen Mittelalter langsam auf, weil die Frei-
heit des Gemüths noch nicht zur Reise gelangt, die Kenntniß der
Natur noch unvollkommen ist, und es geht auch jetzt naturgemäß
die Architektur voran um den Grundrichtungen der Zeit und dem
Geiste der Völker zuerst einen symbolischen Gesammtausdruck zu
geben, ehe noch das individuelle Leben und Empfinden zur Dar-
stellung kommt; allein wir gewahren das malerische Gepräge in
dem Reichthum des Besouderu, in der Gruppenbildung, in den
perspectivischen Innenansichten und dem magischen Dämmerscheiu
deu das Licht der farbenbuuteu Fenster Hervorrust, wie in der
Demuth vor einer höheru Macht oder der Sehnsucht zu ihr,
welche die Sculpturwerke beseelt, im Unterschied von der plastischen
Klarheit und der selbstgenugsameu Hoheit der Eiuzelgestalt in
Antiken. Der griechische Tempel zeigt uns wenige in sich ge-
schlossene mustergültige Formen, das Mittelalter entfaltet die
Principien des romanischen und gothischen Stils in einer kaum
übersehbaren Fülle eigenthümlicher Bauten auf immer neue Weise,
und in vielen derselben tritt uns das Werden der Architekturge-
schichte selbst sichtbar vor Augen. Das tiefe Gefühl der Mystik
und die sondernde und verkettende Schärfe des scholastischen Ver-
standes einigen sich hier, und das gewaltige Ringen der Jahrhun-
derte selbst zieht die besten künstlerischen Kräfte in diesen Kreis,
und macht die verschiedenen Nationen zu Mitarbeitern an einem
gemeinsamen Werk von weltgeschichtlicher Größe.
Die mittelalterliche Baukunst hat sich in zwei Spielarten
entwickelt, deren eine aus der andern im Umschwung des Lebens
nach deu Kreuzzügeu hervorgebrocheu ist; doch werden sie nicht
streng nacheinander, sondern auch nebeneinander ausgeübt, indem
die romanische nicht blos das Gepräge hieratischer Strenge trägt
 
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