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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0343

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Tristan und Isolde.

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Angedeutete ausspinnen und alles ad ovo der Reihe nach weit-
läufig berichten; im Verfall der Poesie überwiegt die gelehrte Voll-
ständigkeit zur Unterhaltung stoffhungeriger Leser.

Tristan und Isolde.
Die Sage von Tristan entspricht ursprünglich bei den Kelten
der von Siegfried bei den Germanen. Hier wie dort weist der
Drachensieg welcher die Jungfrau befreit auf deu himmlischen Ge-
witterkampf der arischen Urzeit; hier wie dort folgt der ersten Liebe
eine zweite verhänguißvoll todbringende, und wenn auch Isolde
selbst nicht dem Morgenroth verglichen würde, wir möchten doch
der Sonne gedenken welche die Morgenröthe verläßt um später
der neuen Geliebten, der Abeudröthe, in die Arme, und damit
selber im Westen ins Todtenreich hinabzusinken; hier wie dort wird
ein Zanbertrauk das Symbol der Herzensgewalt welche den Helden
überwältigt. Aber bedeutsam genug ist die verschiedene Art der
Fortbildung. In Deutschland hat sich der Mythus mit der Welt-
geschichte, Siegfried's persönliches Geschick mit der Völkerwande-
rung und ihren Kämpfen verflochten und das Nibelungenlied ist als
großes Volksepos zu ihrem Spiegel geworden; bei den Kelten hat
sich die Tristansage zum ersten socialen Roman entwickelt, das
Herz im Conflict mir der äußern Ordnung, die Liebe im Streit
mit der Pflicht hat hier eine Darstellung gefunden, die in ihrer
Vollendung durch Gottfried von Strasburg auf ähnliche Weise die
Gefühlswelt der mittelalterlichen Gesellschaft veranschaulicht wie
uns das beste Jdeenlebeu jener Tage in Wolfram von Eschenbach's
Parcival offenbar geworden; sachgemäß ist die heitere Gefälligkeit
der Form, der blühende Reiz der Sprache an die Stelle des Hell-
dunkels, des tiefsinnig Schweren und oft Verwunderlichen im Aus-
druck getreten.
Welsche Tiraden nennen Tristan unter den drei feurig Lie-
benden; seit dem 12. Jahrhundert lebt er und Isolde im Munde
der Troubadours: er ist Held und Sänger wie sie, ein Muster
der Ritterlichkeit, und sein Geschick ward zum Bilde für der Liebe
Leid und Lust, für Ebbe und Flut des Menschenherzens und
 
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