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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0064

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Das Mittelalter.

Jammerte aus ihren: Weißen Halse:
Weh, Unselige, welch Geschick verfolgt dich!
Griffst du, Arme, nach der grünen Föhre,
Schnell vertrocknen würden ihre Blätter!

U. Der finnische Stamm.
Ans der altaischen Völkerfamilie, welche Skythen, Tataren,
Magyaren in sich begreift nnd im Norden Asiens und Europas
wohnt, hat sich die finnische Nation durch frühe Gesittungsanfänge
hervorgethan und von: Altai über den Ural zum Weißen Meer
und zur Ostsee hinaus verbreitet, wie die Grabmonnmente diesen
Weg bezeugen, den sie wahrscheinlich einschlng als die keltische,
slawische, germanische Wanderung in immer neuen Wellen heran-
slutete. In der Berührung mit den Ariern, bald den Schweden,
bald den Russen staatlich unterthan, im Innern zwar ihre persön-
liche Freiheit und Eigenart bewahrend, aber vielfältigen Anregungen
offen haben die Finnen sich vor ihren Stammesgenossen entwickelt
und mit den Esten unter slawischen! und germanischem Einflüsse ein
Phantasieleben entfaltet dessen ich am füglichsten an dieser Stelle
gedenke, wie ich die mittelalterliche Poesie der Juden an die Araber-
in Spanien anreihte.
Finland mit seinen tiefen Meeresbuchten, seinen Granitbergen
und Seen, seinem Wechsel des düstern langen Winters mit den:
kurzen aber lebenreichen Frühling nnd Sommer, Finland mit sei-
nen schattigen Wäldern und brausenden Wasserstürzen war der
geeignete Boden für eine träumerische Einbildungskraft, die bald
wie auf Windesflügeln im Ungeheuern und Maßlosen sich nebel-
haft ergeht, bald innig und sinnig sich in das Kleine und Gegen-
wärtige vertieft. Die Menschen sind von starkem Körperbau,
glattem Gesicht, hervortretenden Backenknochen; lichte Locken, die
sich später bräunen, sind des Hauptes Zier; der Bart ist dünn,
die Augen grau. Ein standhafter arbeitsamer Geist führt hier zu
biederer Treue, zu bedachtsamem Ernste, dort zu Starrheit nnd
stillbrütendem Zorn. „Beiin Wort den Mann, am Horn den
Ochsen", sagt der Finne. Er glaubt an die Kraft des Wortes
wie kein anderer; alle Zanbergewalt des Schamancnthnms der
Turanier (I, 1Z6 fg.) ist bei ihm Angegangen in die schöpferische
Macht des Gesanges, in welchem die hervorbriugende Phantasie
Wie das bindende Maß zugleich herrscht; sie löst und fesselt den
 
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