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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0393

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Die gothische Architektur.

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in den vier Evangelien, so besteht die der Noten in den vier
Linien. Wie der Finalton den authentischen vom plagalen, so
scheidet Christus die Schase von den Böcken; wie das Ende des
Gesangs durch Anfang und Mitte, so wird das Ende des Le-
bens, Verdammniß oder Seligkeit, durch seinen Beginn und seine
Führung bestimmt.

Die gothische Architektur.
Das Selbstgefühl der christlich germanischen Welt wie es
durch die Kreuzzüge mündig geworden war, sein Sehnsuchtsdrang
nach dem Unendlichen, sein begeisterter Aufschwung, sein Ringen
nach persönlicher Selbständigkeit und seine kühne Phantasie fand
den vollendetsten Ausdruck im gothischen Baustil. Wie der Staat
innerhalb des Christenthums bleibt, wenn er auch sich von der
Uebermacht der Hierarchie freiznkämpfen trachtet, so wird die seit-
her gewonnene Grnndgestalt der Kirche erhalten, und die neuen
Formen entwickeln sich aus den romanischen. In diesen war die
Masse gegliedert und gestaltet worden wie das Volk durch die
Autorität der Priester; aber das christliche Volk soll nicht Masse
sein, jeder Einzelne soll als selbstbewußtes und willenskräftiges
Glied im Gottesreich dastehen, und wie eine tiefere Poesie des
Wissens und die Macht des eigenen Denkens sich regt, so wird
auch im Ban die Masse durch die eigenthümliche Lebensgestalt
aller besondern Werkstücke überwunden, und das Ganze erscheint
wie eine freie Einigung aufstrebender Pfeiler, die sich zusammen-
neigen und Zusammenwirken. Im romanischen Stil verschmolz
unter der Leitung der Geistlichkeit die antike Ueberlieferung mit
den Forderungen des Cnltus und der Gemüthsstimmnng der
neuen Völker; so war auch in der Literatur die lateinische Sprache
die herrschende gewesen. Jetzt aber werden die Ritter, die Städte
Träger der Bildung, jetzt wollen die Menschen in ihrer Mutter-
sprache ihr Herz und ihre Weltanschauung dichterisch kundgeben,
jetzt treibt es sie auch in eigenen architektonischen Formen die
Sinnesweise und Richtung der Zeit zu offenbaren. Die Grund-
 
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