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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0392

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378

Das Mittelalter.

theils ritualgerechter Kirchenton, theils ^schloß er sich demselben
an und verwerthete Seqnenzmelodien, oder erging sich in recita-
tivischer Declamation. Wie der Humor in die Dichtung eindrang
und das wirkliche Leben komisch ansgefaßt wurde, wenn Judas
um die Silberlinge schacherte oder der Salbenkrämer den zum
Grabe eilenden Frauen seine Waare anbot, so hat Ambros aus
prager Handschriften dargethan daß sich hier die ungeschlachte
Volks- und Bänkelsängerweise, der Gassenhauer bereits breit
macht, wie andererseits in dem französischen Schäferspiele Adam
de la Hake schon die noch heute im Vaudeville gewöhnliche, für
die Franzosen charakteristische Melodik übt, die wenige Töne ans
einfache Art zu gefälligen Combinationen leicht und ungenirt ver-
bindet und eine glücklich gefundene Tonfignr gern wieder und wieder
anbringt.
Hören wir die mittelalterlichen Schriftsteller über Musik reden,
so lernen wir die Symbolisirnngen der Mystik und Scholastik auch
hier kennen. Da schreiten die authentischen und Plagaltöne wie
vier Brautpaare aus der Hochzeitskammer, da sind die vier Grnnd-
töne die vier Elemente die den Makrokosmos bilden, oder die vier
Temperamente des Menschen, die vier Tages- und Jahreszeiten,
die vier Evangelien. Wie bei Pythagoras ist das Universum ein
musikalisch geordnetes, bewegtes Ganze. Wie bewundernswert!),
sagt Marchettns von Padua, ist doch dieser Baum der Musik:
seine Zweige sind schön nach Zahlenverhältnissen geordnet, seine
tüten sind Wohlklänge, seine Früchte die Harmonien welche ans
den Blüten reifen. Nach de Muris ist das System der Musik
ein Bild der Kirche. Wie diese nach dem Vorbild der Schwestern
Martha und Maria das Leben in ein werkthätiges und beschau-
liches theilt, so ist die Musik thätig beim Sänger, contemplativ
bei dem der sie im Herzen und Gedächtniß hat und anfnimmt.
Der authentische und Plagalton versinnbildlicht die Liebe zu Gott
und zum Nächsten. Die drei Octaven sind die Stufen der Buße
vorn Tiefklang der Zerknirschung durch das laute Bekenntnis) zur
Höhe der Genngthnung in guten Werken. Dreierlei Tonwerkzeuge
verwendet die Kirche, Schlag-, Blas- und Saiteninstrumente; sie
gleichen der Verbindung von Glaube, Liebe, Hoffnung. Kein Ton-
satz kann ohne Anfang, Mitte und Ende sein; keines kann des an-
dern entbehren und alle drei sind eins, ein Bild der göttlichen
Dreieinigkeit. Vier Kirchentöne gleichen den Cardinaltngenden, auf
denen die acht Seligkeiten beruhen. Wie die Erkenntniß der Kirche
 
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