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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0489

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Plastik und Malerei.

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Die gothischeu Bogen, die sich reich verweben,
Sind von Rosetten überblüht, gehalten
Durch Marmorschafte, vom Balkon umgeben.
Welch eine reiche Fülle von Gestalten,
Wo triefend von des Augenblickes Leben
Tiessinn und Schönheit im Vereine walten!

Plastik und Malerei.
Noch bleibt die bildende Kunst im engsten Zusammenhang
mit den Stimmungen und Zwecken der Religion, allein die
Kirche bedient sich für ihre Aufgaben der Laienhände, und für
die Darstellung des individuellen Lebens wird es förderlich daß
bei dem Verfall der Hierarchie die frommen Gefühle und An-
schauungen der einzelnen nach einem Ausdruck ringen der ihrer
Innigkeit gemäß ist und das Ideal der Seele in ihrer Reinheit
und ihrem Frieden mit Gott zur Erscheinung bringt. Bildnerei
und Malerei sind städtische Gewerbe, sie werden gleich solchen
gelernt und gelehrt; und wenn dieser gesunde Volksboden sie vor
eitler Willkür bewahrt und den Grund einer tüchtigen Technik
legt, so tritt dafür der persönliche Genius in seiner Freiheit
kaum hervor; ein gemeinsamer Stil der Schule trägt und be-
schränkt die Kräfte, und die besten derselben erzeugen ähnlich wie
im Volksgesang ganz naturwüchsige Blüten der Schönheit. Nur
in Italien kündet die Morgenröthe der Neuzeit auch dadurch sich
au daß die Subjectivität der schaffenden Künstler mächtiger hervor-
bricht. Und schon jetzt zeigt sich bei den Italienern die Richtung
auf den Adel der Form, den Rhythmus der Linien, während
diesseits der Alpen die Lieblichkeit und Kraft des Ausdrucks und
der Farbe voransteht.
Die Sculptur kommt zunächst zu einem massenhaften Betrieb
durch den Statuenschmuck der gothischeu Dome und schließt der
Architektur in dem schlanken Aufstreben und den schwanken Bie-
gungen der Figuren mit weichem Fluß der reichen Falten sich an.
Statt des epischen Stils im Cyktus würdevoller Gestalten waltet
der lyrische Empfindungsausdruck der einzelnen, und solche For-
men werden stehend welche demüthige oder sehnsuchtsvolle Hingabe
 
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