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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0513

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Der deutsche Meistergesang und die Musikschule re. 499
persönliche Jndividualisirung der Charaktere und die Abstufung des
Ausdrucks der Verehrung, der sinneudeu Betrachtung, des Schmer-
zes, der schwärmerischen Hingebung bewundernswerth.

Der deutsche Meistergesang und die Musikschule der
Niederlande.
Konrad von Würzburg hatte darauf hingewiesen daß unter
allen Künsten die des Gesanges weder gelehrt noch gelernt wer-
den könne, sondern der Ausfluß einer göttlichen Gnadengabe sei;
das 14. Jahrhundert machte in unsern Städten auch Poesie und
Musik zur Sache der Schule, der zunftmäßigeu Ausübung. An
die Stelle der höfischen Dichter, der ritterlichen Minnesänger
traten Handwerker, welche nun die von jenen befolgten Regeln
im Bau der Verse und der Melodien aufnahmen und erweiter-
ten, sodaß sie sich selbst als deren Nachfolger und Fortsetzer be-
zeichnten. Heinrich von Meißen, genannt Frauenlob, gilt als
der erste der in Mainz eine bürgerliche Genossenschaft zur Pflege
der Dicht- und Sangeskunst gründete; man kämpfte mit Liedern
um Ehrenpreise und erwarb den Meisternamen wie sonst in den
Zünften durch ein Meisterstück, das heißt durch die Erfindung
und den fehlerlosen Vortrag eines Tons, eines Gedichtes in
eigenem Versmaß und eigener Melodie. Manchmal waren es
die Mitglieder eines bestimmten Gewerks, gewöhnlich die Sanges-
lustigen aus allen Zünften, die sich zu einer Innung zusammen-
schlossen; deren Vorstand hieß das Gemerk, es bestand aus dem
Merkmeister und seinen Merkern, den Kritikern, dem verwalten-
den Schlüsselmeister, dem kassaführenden Büchseumeister und dem
preisaustheilenden Kronmeister. Kränze von Gold- oder Silber-
draht oder ein aus Goldblech geschlagenes Bild vom harfenspie-
lenden König David waren der Preis; die Gedichte welche ihn
gewonnen wurden in das Zunftbuch eingetragen. Die Regeln
hießen Tabulatur; wer sie einübte war Schüler, wer sie verstand
war Schulfreund, wer Lieder nach fremden Tönen verfaßte und
vortrug war Sänger. Das Gesetz der Dreigliedrigkeit galt für
die Strophen fort; um immer neue zu erfinden machte man sie
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