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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0162

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Das Mittelalter.

Statthalter Gottes sollte der Kaiser der Christenheit Schirmherr
sein, über Recht nnd Frieden wachen, alles Volk, nach Stämmen
nnd Ständen gegliedert, als sein Haupt leiten und regieren. Ihm
zunächst sollte der Papst die geistlichen Angelegenheiten verwalten,
daun sollten die weltlichen Großen besondern Kreisen vorstehen.
Karl war als oberster Kriegsherr und Richter der Franken empor-
gestiegen; er gab ein allgemeines Reichsrecht, das die natürlichen
Triebe der freiheitstolzen Germanen dem höchsten Staatszweck unter-
warf, aber innerhalb einer höhern Weltordnung ihnen die selb-
ständige Eigenart und Bewegung gönnte; waren doch die Gesetze
selbst die Fassung deutschen Wesens nnd deutscher Sitte. Alle Ge-
walt ging von der Persönlichkeit des Kaisers ans, aber sie war
an die heimischen Ordnungen gebunden nnd bedurfte zu ihrer Wirk-
samkeit der Zustimmung des Volks. Die geistlichen nnd weltlichen
Großen, die sich bereits unter den Merowingern durch Grundbesitz
und abhängige Hintersassen zu einer Aristokratie anfgeschwnngen,
standen dem Kaiser als Rathgeber und Vollstrecker seiner Ent-
schlüsse zur Seite. Das Volk sollte in seiner Freiheit und seinem
Besitz gesichert, durch Sorge für Wohlstand nnd Bildung gefördert
werden. Vom Kaiser eingesetzte Beamte standen den Gauen vor;
aus der Gemeinde erwählte Schössen sprachen unter dem Vorsitze
derselben das Recht; alle freien Männer einer Grafschaft erschienen
dreimal im Jahr zu öffentlichen Versammlungen; ein selbständiges
Gemeindeleben fand hier seine Bethätignng innerhalb des Staats.
Kaiserliche Sendboten durchzogen das Reich um überall die Durch-
führung der Gesetze zu überwachen nnd über die Zustände des Volks
Bericht zu erstatten.
Nur ein Genius von Karlls geistiger und natürlicher Bega-
bung an Herrscher- und Arbeitskraft in Krieg und Frieden, erfin-
derisch im Gedanken, klar in der Erfassung der thatfächlichen Lage
und rastlos unwiderstehlich in der Ausführung seiner Entwürfe
konnte an die Verwirklichung dieses Ideals denken; auch unter ihm
blieb dieselbe mangelhaft und nach seinem Tode konnte sie ohne
den organisirenden Mittelpunkt nicht bestehen; das Ganze war zu
sehr durch den Schlußstein der Spitze bedingt, zu wenig von unten
herauf durch den Willen, die Selbstbestimmung des Volks getragen;
aber die Wärme persönlichen Schaffens, persönlicher Anhänglichkeit
nnd Treue beseelte das Werk und steigerte den begeisternden Ein-
druck auf die Gemüther, und für Jahrhunderte blieb Karl's
Schöpfung, die staatliche Organisation des Germanenthumö im An-
 
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