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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0226

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212

Das Mittelalter.

dieser einst so lebendig offenbarten, nnn aber erstarrten, erstorbenen
Formen. Die Byzantiner bewahren die Tradition, die Klöster pflanzen
sie fort. Die Vermählnng des deutschen Kaisers Otto II. mit der
Griechin Theophanu hat für den Norden einen regen Verkehr mit
Konstantinopel, die Einführung von Kunstwerken und die Aufnahme
von künstlerischen Formen von dort vermittelt. Desiderius der Abt
von Monte Cassino sandte zur Zeit Gregor's VII. nach Byzanz
um Künstler zu haben, die als Werkmeister und Lehrer eine Schule
in Italien bildeten, sowie Handelsplätze, Amalfi und Venedig, den
Zusammenhang mit dem Osten aufrecht erhielten. Ein Mönch
Theophilus stellte die Vorschriften für Bildnerei und Malerei
zusammen. Vornehme Frauen übten sich in der Stickerei von
Teppichen und Gewändern. Das Symbol des Heiligenscheins
ersetzte den Adel innerer Schönheit, das die Gestalt durch-
leuchtende Feuer der Begeisterung; die Natur galt für zerrüttet
durch den Sündenfall, sie sollte darum nicht von ihr aus
in das eigene Ideal gesteigert und verklärt werden, sondern de-
müthig ihre Schwäche anerkennen. Ans unklarem Sehnen und
ungefügem Ringen bricht da und dort ein Keim der Schönheit her-
vor; erst die Folgezeit bringt ihn zur Blüte. Der Unterschiede,
der Ansätze sind so viele, die Begabung der Völker, Stämme,
Individuen ist eine so mannichfache, daß Ungeheuerliches und Maß-
volles, trübe Gärung und anhebende Klärung nebeneinander sich
bewegen und eine entschlossene Kräftigkeit in unbeholfener Erschei-
nung zu Tage kommt.
Die Malerei überwiegt bereits, die Plastik schreitet selbst
langsam an dem baulichen Ornament voran, und zeigt sich zuvör-
derst in kleinen Elfenbeinschnitzereien an Diptychen, Bücherdeckeln,
Kästchen bald in heimischer Weise naiv roh, bald sauber und zier-
lich nach byzantinischen Mustern. Werke letzterer Art ans Sanct
Gallen (um 900), Bamberg (um 1000), Metz gesellen zu Christus
und den Aposteln die Erde und das Meer, die Sonne und den
Mond nach antiker Ueberliefernng; ein Fortschritt bekundet sich im
Ausdruck leidenschaftlicher oder inniger Gefühle, aber die formalen
Gesetze werden vernachlässigt, die ungeschickt behandelten Köpfe,
Hände, Füße sind ungebührlich groß, und mahnen daran daß die
Kirche den unmittelbaren Blick ans die Natur entbehrt, daß nicht
von dieser, sondern von der Seele ans die christliche Kunst sich
entwickeln sollte. Die gottesdienstlichen Geräthe, die Altäre wurden
mit kostbaren Metallen und Edelsteinen mehr stofflich Werth- und
 
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