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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0388

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Das Mittelalter.

der Kirche mit ihrer überall gleichmäßigen lateinischen Bildung,
und bereitete so den gleichartigen Boden für die gemeinsame Ent-
wickelung einer abendländischen Musik. Das Mittelalter nahm ihn
sammt der Theorie des Boethius gläubig auf, und gesellte die
Musik als eine der sieben freien Künste der Arithmetik und Astro-
nomie, denn sie galt der Scholastik als die Lehre von den in den
Tönen und ihrer Harmonie herrschenden Zahlen.
Am Anfänge des 10. Jahrhunderts nun tritt uns als ord-
nender und begründender Meister für das eigentliche Mittelalter
der flandrische Mönch Hucbald entgegen, der dem Gesammt-
charakter der Epoche getreu mit den antiken und christlichen Ueber-
lieferungen das volksmäßig Nene zu vermitteln und zu verbinden
beflissen war. Auch er suchte nach anschaulicher Tonschrist um
das Steigen und Fallen der Stimme zu versinnlichen; er gab
dem einen Sänger einen zweiten schon zum freien Geleite, der
die Melodie des erstem mit fremden, aber passenden Tönen be-
gleitete, während bei den Schlüssen beide im Einklang oder in
der Octave Zusammentreffen, sodaß die Zeitgenossen von einer
übereinstimmenden Entzweiung redeten, und die Grundlage für
die Entwickelung der Harmonie gelegt ward, die mm der ein-
fachen Melodienplastik des Griechenthnms das Princip der male-
rischen Gruppenbildung und mannichfaltigen selbständigen und
doch wechselbezogenen Vielstimmigkeit in der Musik gegenüber-
stellte. Noch erhob sie sich nicht zur freien Schönheit wie die
Architektur, noch blieben ans der einen Seite die Knnstübungen
kirchlich scholastisch, während auf der andern die poetische Em-
pfindung sich in den Liedern der Troubadours und Minnesänger
ergoß ohne an die Schnlregel sich zu binden, oder ein Franz
von Assisi mit der Lerche wetteifernd die liebeglühende Seele in
ungebundenen Rhythmen sich gen Himmel schwingen ließ. Die
Schule hatte ihren Meister in dem Benedictinermönch Guido
von Arezzo, der in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts nicht
blos das Gehör und die Stimme der ihm anvertranten Jugend
durch eine einfache Unterrichtsmethode rasch bildete, sondern auch
den Noten durch ihre Stellung ober-, inner- oder unterhalb
eines Systems von Linien eine bezeichnende und feste Stelle gab.
Er verlangte daß der Gesang dem Sinn der Worte, dem Wech-
sel der Dinge sich anpasse, sodaß er ansdrücke was die Worte
sagen, frisch und übermüthig beim Jüngling, streng und ernst
 
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