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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0424

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Das Mittelalter.

lichen Formen und Zwecken nicht blos einstigen, sondern unter-
ordnen mußte. Die französischen Kathedralen sind vorzüglich
reich an solchen Werken, am glanzvollsten die zu Rheims und
Bourges; auch in Notre Dame von Paris ist das Rosenfenster
der Fassade von wunderbarer Wirkung. England und Deutsch-
land folgten nach, doch vornehmlich erst im folgenden Jahr-
hundert.
Die stark ausgetragenen Umrisse und die lichten Farben in
den Miniaturen der Handschriften zeigen den Einfluß der Glas-
malerei. Schon Dante rühmt die Kunst „die in Paris man nennt
illuminiren". Deutschland hielt gleichen Schritt. Charakteristisch
sind für uns die Darstellungen in den Ritterepen und der Minne-
lhrik. Die Gestalten erheben sich hellfarbig mit leichter farbiger
Schattirnng auf dunklerm teppichartigem Grunde; zart geschwungene
wellige Gewänder umfließen die Körper, deren Organismus aller-
dings oft mangelhaft bleibt, aber die Empfindung des Gesichts, die
Haltung der Figuren, die Bewegung der Hände hat mannichfach
sprechende Motive und erfreut bald durch naive Grazie, bald zeigen
sich aber auch wie in der Poesie conventionelle Manieren im Aus-
druck sentimentaler Stimmung. Selbst in religiösen Büchern wagt
die weltlich heitere Laune das Rankenwerk der Einfassungen mit
muthwilligen Arabesken zu beleben.
In Italien ist es wieder ähnlich wie bei der Sculptur; wäh-
rend im Norden der mächtigere Geist der Zeit'die Künstler beseelt
und trägt und die einzelnen sammt ihren Namen in großen ge-
meinsamen Werken aufgehen läßt, treten dort die Persönlichkeiten
mit eigenthümlichen Arbeiten hervor, und gehen weniger auf die
Innigkeit der romantischen Empfindung als auf den Adel der
Form und den Rhythmus der Composition aus; die Ueberliefe-
rung des Alterthnms bleibt gegenwärtig, der Sinn auf das
Schöne um seiner selbst willen gewandt. Florenz und Siena stehen
voran, Cimabne und Duccio di Buoninsegna sind die bahnbrechen-
den Meister, nachdem schon Giunta von Pisa den byzantinischen
Typus mit energischer Leidenschaft durchbrochen, Guido von
Siena ihn durch sanftes Gefühl gemildert, Torriti in ausdrucks-
vollen Mosaiken die altchristliche Weise der gegenwärtigen Em-
pfindung angebildet hatte. Cimabne hat in der Kirche von Assisi
nach den Büchern Mosis und nach den Evangelien gemalt; er
beseelt die strengen Formen, indem er die Handlung auf dem
Gipfel des dramatischen Conflicts erfaßt, und erreicht dadurch ein
 
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