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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 3, Mittelalter ; Abt. 2): Das europäische Mittelalter in Dichtung, Kunst und Wissenschaft — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33537#0478

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Das Mittelalter.

Theologie wahr und in der Philosophie falsch sein und umge-
kehrt. Noch ordnete die Vernunft der äußern Autorität sich unter,
aber die Zeit der großen Dogmatiker war vorüber, und die
Gelehrten, die immer mehr aus dem Laienstande hervorgingen,
wandten ihre dialektische Schule und Diöpntirfertigkeit nunmehr
auf weltliche Dinge, und suchten das Recht und die Heilkunde
ans ähnliche Weise ans den Ueberkieferungen der Alten zu dedu-
ciren wie sie die Theologie nach Sätzen der Kirchenväter dargestellt
hatten. Noch dachte man nicht daran daß die Wissenschaft sich
vor allem an die eigene innere und äußere Erfahrung zu halten
und von Thatsachen auözngehen habe, man hielt sich an die
Satzungen des römischen Rechts, an die Aussprüche des Aristo-
teles oder Galen um auf sie ein weiteres Schlnßgebände mit
Worten zu bauen, und begnügte sich mit dessen Folgerichtigkeit.
Man meinte auch das Gewöhnlichste in shllogistischer Breite dar-
legen zu müssen. Antoritätsgläubig bewies man mit Citaten, und
je mehr Meinungen oder Beispiele aus dem Akten und Neuen
Testament oder ans der griechisch-römischen Geschichte man an-
führen konnte', um so besser begründet galt eine Sache, und wäre
sie so nichtswürdig gewesen wie ein gedungener Meuchelmord
oder so sinnlos wie der Aberglaube an Hexerei. Die Theologen
dispntirten über die Zahl der Engel die ans einer Nadelspitze
tanzen könnten, über die Frage ob Christus statt die Gestalt des
Menschen auch die des Esels oder Kürbisses hätte annehmen
können, und wie er dann seine Wunder gethan haben würde.
Von der hohlen Weitschweifigkeit und trockenen Geschmacklosigkeit
die durch diesen antoritätssüchtigen Citatenkram der Gelehrten
selbst in das gewöhnliche Leben kam, gibt Schnaase zwei köstliche
Beispiele. Der Magistrat von Berlin fängt eine Polizeiverord-
nnng über den Fleischhandel der Inden damit an daß er Aristo-
teles im ersten Buch der Städteregiernng zum Beweise der gro-
ßen Wahrheit heranzieht wie der Mensch unter allen Thieren das
vornehmste sei; und König Karl V. von Frankreich in einem
Hansgesetze vom Jahre 1374 beruft sich um die Bestimmung des
Großjährigkeitstermins seiner Nachkommen zu begründen nicht nur
auf eine stattliche Reihe jüdischer, macedonischer und Zänkischer
Könige, sondern schließlich ans einen Vers ans der Nebeslnnst
des Ovid.
Unter diesem Scheinwesen aber wuchs der gesunde Menschen-
verstand in der Beobachtung der Natur für die Zwecke der
 
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