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Gast, Uwe; Rauch, Ivo
Die mittelalterlichen Glasmalereien in Oppenheim, Rhein- und Südhessen — Corpus vitrearum medii aevi - Deutschland, Band 3,1: Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 2011

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https://doi.org/10.11588/diglit.52850#0163

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162

GRONAU • PFARRKIRCHE

Ikonografie, Komposition: Da eine aus dem Kontext des Lebens
Mariä bzw. der Kindheit Christi herausgelöste Darstellung der
Darbringung im Tempel nach Lc 2,22-38 nur ausnahmsweise
und dann nur in gut zu begründenden Fällen begegnet8, muss
die auf ein Feld beschränkte Szene in Gronau Teil eines einst
umfangreichen, im Einzelnen jedoch nicht mehr rekonstru-
ierbaren Bildzyklus gewesen sein. Zu ihren Besonderheiten
zählt zum einen, dass Maria vor dem Altar mit zum Gebet zu-
sammengelegten Händen kniet, zum anderen, dass Simeon in
Gestalt des Hohepriesters das Kind hält9. Darin gemahnt sie
nicht nur an Stefan Lochners berühmte, 1447 datierte Tafel in
Darmstadt, sondern auch - und mehr noch - an dessen Dar-
bringung im Darmstädter Gebetbuch von 145i10. Allerdings
weicht die Darstellung in Gronau von den Darstellungen Loch-
ners darin ab, dass die Figuren Mariens und des Hohepriesters
auseinandergerückt sind und ihre Köpfe sich zudem auf annä-
hernd gleicher Höhe befinden; sie dürfte folglich auf eine Vor-
lage zurückgehen, in der Lochners viel zitierte Komposition
bereits modifiziert war.
Farbigkeit, Technik: Die Darstellung wird von einem auffallend
starken Kontrast dunkler und heller, in ihrem Zusammenspiel
aber harmonisch aufeinander abgestimmter Farben geprägt,
deren dominierenden Grundton ein wässriges, mit Braunlot
abgedunkeltes Violett für den Altar und das Mauerwerk bildet;
er wurde ursprünglich begleitet von dem Hell- und Graugrün
des schachbrettartig gemusterten Fliesenbodens und - in den
Ausblicken aus dem Tempelraum - von dem tiefen Blau des
Himmels. Über ihre delikate Farbigkeit hinaus zeichnet die
Darstellung sich durch eine routinierte, alle maltechnischen
Möglichkeiten nutzende Ausführung aus. Dabei überwie-
gen Negativtechniken wie Stupfen, Radieren und Wischen;
Schwarzlot-Schraffuren zur Unterstützung der Schattenlagen
wurden hingegen nur sparsam eingesetzt. - Außenseitig sind
die Schattenpartien im Gewand Mariens mit einer bräunlichen,
z.T. radierten Halbton-Bemalung hinterlegt; vereinzelt Silber-
gelb.
Stil, Datierung: Da die vermutete Herkunft der Scheibe aus
Gronau sich nicht bestätigen lässt, sind deren Entstehungsort
und -zeit nur mit den Mitteln der Stilkritik zu bestimmen. Zwei
charakteristische Merkmale sind hierbei hervorzuheben: zum
einen die feine, gestupfte, dadurch etwas spröde wirkende, in
der Konturzeichnung zugleich auch holzschnittartige Machart,

zum anderen der gutmütig-naive Ausdruck in den rundlichen,
stets freundlichen Gesichtern. Letzterer findet sich in eng ver-
wandter Zeichnung in einer Gruppe von Fenstern aus der ehern.
Karmeliter-Klosterkirche in Boppard wieder, hier namentlich
in den Darstellungen aus dem Leben Mariä und Christi im
Jesse- und des Dekalogs im Zehn-Gebote-Fenster (Fig. 94)11.
Gleichwohl ist jene Fenstergruppe aus Boppard, die um die
Mitte der I44oer-Jahre in einer-vermutlich - mittelrheinischen
Werkstatt geschaffen worden ist, nicht als alleinige stilistische
Voraussetzung für die Gronauer Scheibe anzusehen; vor allem
deren maltechnische Ausführung, die alle Möglichkeiten der
Stupf-, Radier- und - verhaltener - Zeichentechnik nutzt, um
den Figuren wie den Gegenständen eine gewisse Körperlich-
keit zu verleihen, ist gegenüber den genannten Fenstern neu-
artig und weist darin auch über Werke wie die Scheibenreste
aus dem um 1435/40 verglasten Westchor der Katharinenkirche
in Oppenheim (s. S. 363-374, Fig. 292, Abb. 96, 110), die ihr in
dieser Hinsicht näherstehen, weit hinaus. So repräsentiert die
Scheibe den Rest einer ansonsten verlorenen Farbverglasung,
die in einer am Mittelrhein ansässigen Werkstatt in der weiten
Nachfolge der in Oppenheim und Boppard tätigen Glasmaler-
Werkstätten entstanden ist. Ihre fortschrittlichere maltech-
nische Ausführung lässt eine Entstehung im dritten Viertel des
15. Jh. vermuten, was auch in Einklang mit den Beobachtungen
zu ihrer Komposition steht.
Mittelrhein, um 1460/70.
CVMA GP 13018, Großdia GP 03/28

Fig. 95. ES Lhs. s III.
M 1:15


8 Das prominenteste Beispiel ist zweifellos Stefan Lochners Darbrin-
gung im Tempel aus der ehern. Deutschordenskirche St. Katharina in
Köln (Darmstadt, HLM, Inv. Nr. GK 24; Beeh 1990, S. 92-97, Nr. 17),
in der sich eine - in einem an der Tafel befestigten Reliquiar aufbe-
wahrte - Reliquie des Hl. Simeon befand; s. hierzu zuletzt Roland
Krischel, Mediensynthesen in der spätmittelalterlichen Sakralkunst.
Das Altarbild als Kulisse für liturgische Gegenstände und Handlun-
gen, mit einem Beitrag von Tobias Nagel, in: Wallraf-Richartz-Jb. 69,
2008, S. 73-168, hier S. m-116.
9 Dorothy C. Shorr, The Iconographic Development of the Presen-
tation in the Temple, in: The Art Bulletin 28, 1946, S. 17-32, hier S. 24,
29L
10 Darmstadt, Universitäts- und Landesbibliothek, Hs. 70, fol. 56V;
Stefan Lochner Gebetbuch 1451. Sämtliche Miniaturen der Hand-

schrift 70 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darm-
stadt, hrsg. von Kurt H. Staub, Wiesbaden 1996, Abb. S. 91. - Zum
Tafelbild s. Anm. 8.
II Die stilistische Herleitung dieser beiden, auf Standorte in Deutsch-
land, Großbritannien und den USA verteilten Fenster (vgl. hierzu die
Übersicht bei Becksmann 2006, S. 14L) ist in der Literatur schon häu-
fig behandelt, aber noch nicht eindeutig geklärt worden. Bisher gelten
sie als Arbeiten einer meist an den Mittelrhein lokalisierten Werkstatt,
wobei die Ansichten über deren künstlerische Wurzeln - ob Ober- oder
Mittelrhein - deutlich differieren. Das komplizierte Beziehungsge-
flecht haben erstmals Hayward 1969, bes. S. 107, und Wentzel 1969
dargelegt. Vgl. zusammenfassend: Lymant 1982, S. 105-108, Nr. 60,
hier S. 108; Becksmann 1995, S. 175L, Nr. 61; Raguin/Zakin/Pastan
2001, S. 168-175, Nr. DIA 4, hier S. 174t.
 
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