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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 1 (1. Oktoberheft 1918)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0053

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Bürgermeister treten, dem drei Ma-
gistratsmitglieder und ebensoviel Stadt-
verordnete beigcgeben sind. Bürger nnd
Frauen sind hinzuwählbar, ebenso die
Direktoren der höheren Lehranstalten,
sofern deren Zahl drei nicht übersteigt.

Jm Herbst mit Goethe
(^laubert erzählt uns einmal, wie er
O bei Rouen am Seineufer im Früh-
ling wandelt. Die Kathedrale spiegelt
sich im Strom, die Glocken läuten, er
liest die Osterszenen des Faust laut vor
und erlebt goethisch groß und frei den
Zauber des Auferstehungsfestes. So
der Franzose. Wie viele Deutsche erst
wandern und wandern alljährlich zum
Osterfest mit dem „Faust" in der Tasche
hinaus! Aber Goethe hat uns im-
mer etwas zu sagen: wir mögen sein
verlangen, wann wir wollen.

Herbst! Wir lesen den jungen
Goethe:

„Fetter grüne, du Laub,

Am Rebengeländer
Hier mein Fenster herauf!
Gedrängter quellet,
Zwillingsbeeren, und reifet
Schneller und glänzend voller!"

— und fühlen die lehte Müttcrlich-
keit der Sonne, die, ehe sie ihrc Kin-
der zum Winterschlafe bringt, sie noch
cinmal recht kost, daß sie ihre Früchte
zu ganz satter Süßigkeit ausreifen.
Wir lesen weiter: die Iugendliebes-
stürme zu Lili waren dahin; da bindct
sich Goethes Leid in der Schau eines
herrlichen Herbsttages zu einer Weh-
mut, die zugleich Abschluß und Aber-
windung ist:

„Euch brütet der Mutter Sonne
Scheidcblick, euch umsäuselt
Des milden Himmels
Fruchtende Fülle,

Euch kühlt des Mondes
Freundlicher Zauberhauch,

Und euch betauen, ach!

Aus diesen Augen
Der ewig belebenden Liebe
Vollschwellende Tränen."

Das Gedicht ist eines der Zeugnisse
dafür, wie die Natur dem Menschen
helfen kann. Iener sonnige Herbst in
Offenbach hat Goethe geholfen.

Er verstand es ja, mit der Iahres-
zeit zu leben. „Alles Behagcn am

Leben ist auf eine regelmäßige Wie-
derkehr der änßeren Dinge gegründet.
Der Wechsel von Lag und Nacht, der
Iahreszeiten, der Blüten und Früchte,
und was uns sonst von Epoche zu Epoche
entgegentritt, damit wir es genießen
können und sollen, diese sind die eigent-
lichen Triebfedern des irdischen Le-
bens," sagt er einmal in „Dichtung und
Wahrheit". So empfand er Freuden
und Schmerzen der Natur mit, und
seine eigenen Leiden und Freuden er-
scheinen in seiner Dichtung oft geradezu
gleichgeformt mit dem Leben der Na°
tur. Im Frühling unü Sommer blühte
Werthers Liebe, aber „wie die Natur
sich zum Herbste neigt, wird es Herbst
iu mir und um mich her. Meine
Blätter werden gelb, und schon sind
die Blätter der benachbarten Bäume
abgefallen." Ie näher der Winter,
desto dunklere Stürme. „Nachts nach
Elf rannt' ich hinaus. Ein fürchter-
liches Schauspiel, vom Fels herunter
die wühlenden Fluten in dem Mond-
lichte wirbeln zu schen, über Acker
und Wiesen und Hecken und alles,
und das wcite Tal hinauf und hinab
eine stürmende See im Sausen des
Windes! Aird wenu dann der Mond
wieder hervortrat und übcr der schwar-
zcn Wolke ruhte und vor mir hinaus
die Flut in fürchterlich herrlichem
Widerschein rollte und klang: da über-
fiel mich ein Schauer und wieder ein
Schauer! Ach, mit offenen Armen stand
ich gegen den Abgrund und atmete
hinab! hinab! und verlor mich in der
Wonne, meine Qualen, meine Leiden
da hinab zu stürmen! dahin zu brausen
wie die Wellen!" Goethe hat als Dich-
ter zu sagen vermocht, bis zu welchem
Leide sich die Vergänglichkeit von Natur-
und Menschenglück gegenseitig steigern,
aber wie er uns unter die Schatten
des Todes bringt, so führt er uns
auch wieder zum Licht. Die Weimarer
Gesellschaft war einigermaßen erstaunt,
als Goethe auch im Winter in seinem
Gartenhäuschen wohnen blieb, trotz-
dem der Sturm es zauste, Goethen im
Schlafe störte und kalt ins Zimmer
blies. Goethe nahm den „Feldzug ge°
gen die Iahreszeit" auf. Er machte
sein Nest nach Möglichkeit zurecht und
schrieb der Mutter: „Ich sitze noch in
meinem Garten, pflanze und mache

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