Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1918)
DOI Artikel:
Fischer, Aloys: Georg Simmel: (geb. 1. März 1856, gest. 27. September 1918)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0065

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Leistung und Verdienst für die Philosophie müssen um so höher gerechnet werden,
als die Zeit und Züge seiner eigenen Natur dauernd Widerstände boten, durch
deren Aberwindung erst sein Werk möglich wurde. Die Zeit, in der er die Lauf-
bahn des lehrenden Philosophen einschlug, war eine unphilosophische; die
schöpferischc Kraft der Philosophie schien versiegt, ja ihr Anspruch lächerlich ge-
worden. An den Hochschulen überwogen das gelehrte Studium und die Kritik
vergangener Philosophien sowie die Pflege der Einzelwissenschaften von der Natur,
der Seele, der Kultur, die man entweder ohne weiteres für fähig hielt, Philo-
sophie zu ersetzen, oder von deren methodischer Verlängerung man auch die
Lösung der wenigen noch als echt anerkannten Fragen der Welt- und Lebens-
anschauung mit erwartete. Die Systemlosigkeit der Zeit ist der Hintergrund für
den Mangel eines Shstems, ja den Widerwillen gegen ein System auch bei
Simmel. Die immer neue und unvoreingenommene Haltung, mit der er an
jede Einzelfrage herantrat — und es hat ihn gereizt, zu mehr Problemen unserer
geistigen Lage Stellung zu nehmen, als dies bei sonst einem deutschen Denker
im Rahmen der Hochschule der Fall war — verstärkte noch den Lindruck schwe-
bcnder Unsicherheit und vorsichtiger Skepsis, den der Widerwille gegen das
Shstem leicht mit sich führt. So kam das Bild Simmels als des letzten Skeptikers
und Relativisten in Umlauf, und eine oberflächlich rassenpsychologisch eingestellte
Beurteilung konnte sich leicht unter Berufung auf seine jüdische Abstammung end-
gültig dabei beruhigen.

Auch in der eigenen Natur konnten philosophiewidrige Züge gefährliche
Hemmungen schaffen. Simmel verfügte über ausgebreitete Kenntnisse auf fast
allen Gebieten der Kulturforschung, assimilierte leicht und entging nicht immer
der Gefahr, eine neugewendete Zusammenfassung vorhandener Denkmotive für
eine neue Lösung zn halten. Der Geistreichtum täuschte ihn mitunter darübcr,
daß eiue glänzcrrde Verbindung entlegener Dinge nicht gleichbedeutend ist mit
eincm Vcrständnis des Einzelnen aus dem Ganzen. Älber wie die Neuauflagen
seiner Werke beweiscn, wie insbesondere die bei wiederholter Behandlung
des gleichen -Gegenstandes handgreiflichen Verbesserungen lehren, hat er seine
Gefahr selbst gekannt und mit ihr gerungen, obgleich er damit seinem Tages-
ruhm Abbruch tat, denn dieser beruhte auf dem Geistreichtum, der oft blendenden
Einzelheit des Einfalls und der Verknüpfung, und auf der lebendigen Vedeu-
tung sciner Fragestellungen und Gegenstände.

Für eine tiefere, den Faden der Entwicklung bcachtende Veurteilung ist
Georg Simmels Philosophie weder im Einzelproblem stecken geblieben, noch im
strengen Sinne des Wortes relativistisch, d. h. von der Anlösbarkeit der letzten
Fragen und damit von dem gleichen Recht entgegengesetzter Standpunkte über-
zeugt. Freilich scheidet er sich scharf von Männern wie Hermann Lotzc oder Wilhelm
Wundt, die, in den Geistes- und Naturwissenschaften der Gegenwart forschende
Fachmänner, entweder nach einer die ganze Welt umspannenden Synthesis streben
oder jedenfalls das Seinsproblem, die Fragen einer im engeren Sinn so zu
nennenden Naturphilosophie als Mittelpunkt der Spekulation betrachten. Simmel
wiederholt — wenn nicht in ausdrücklicher Polemik, doch durch sein ganzes
Schaffen — die Wendung der Sophistik gegen die Naturphilosophie. Auch sein
Ausgangspunkt, ja seine einzige Frage ist der Mensch und seine Geisteswelt,
die Kultur. Geist, Geschichte, Gesellschaft und Kultur liegen in einer grund-
sätzlich anderen Dimcnsion der Wirklichkeit als Materie, Bewegung, Naum und
Zeit, Leben und Seele als Naturfaktoren. Rnd diese andere Dimension ist für
das stellungnehmende, wertende, schaffenüe Bewutztsein die ausschlaggebende.
Deshalb wird Verständnis -er Kultur, Sinndeutung ihres Werdegangs, Kritik,
d. h. Erkenntnis und Rechtfertigung oder Ablehnung nach letzten leiteirden
Werten, die eigentliche Aufgabe der Philosophie. Aus dieser Haltung des
Geistes folgen die Berührungen unü Beziehungen Simmels zu bekannten zeit-
genössischen Geistern, besonders M. Weber, E. Tröltsch, H. Rickert, W. Diltheh
und anderen, in deren Gesellschaft er sich schließlich — nach langer Einsamkeit
— seit der Gründung dcs „Logos" fand.
 
Annotationen