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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 4 (2. Novembereft 1918)
DOI Artikel:
Hoffmann, Paul Theodor: Totenfestgedanken mit Jean Paul
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0135

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dem Reiche Gottes entgegenschlummern, um als reine Geister in die Seligkeit
aufgenommen oder für ewig verdammt zu werden. Die Shnthese von Sinn-
lichem und Geistigem bleibt ihnen ein nnmöglicher nnd damit für immer ver--
worfener Kompromiß. Erst mit der Renaissance setzt diese Bindung neu ein,
nun befrnchtet sie das Lebensgefühl gewaltig nird läßt jetzt auch für das
Rätsel des Todes neue Deutnngen zu. Nun erst kann der Tod nicht mehr
als einseitige Fortsetzung einer Lebenskomponente erfaßt werden, sondern
als Fortführung des Lebens schlechthin. So begreift ihn Goethe als Abersteige-
rung des irdischen Lebens. Die menschliche Seele kann sich ausweiten bis zur
geistigen Ausgrenzung des irdischen Kosmos überhaupt. Will sie noch dar-
über hinaus, so überspringt sie die Grenze des irdischen Lebens und betritt die
Sphäre des Todes. Man vergleiche den dramatischen Entwurf Prometheus.
Was die Seele selbst anlangt, so befindet sie sich für Goethe in einer Art
progressiver Seelenwandernng. Die Metempshchose wird Hier mit der Leibniz-
schen Monadenlehre verquickt nnd optimistisch gcdeutet.

Dem Goethischen Lebens- und Todesgefühl nahe verwandt ist dasjenige
Iean Pauls. Während wir sonst Iean Paul als den zerfließenden, „anregen-
den", abcr nicht ausführenden, dort nicht folgen mögen, wo es sich um scharf-
umrissene irdische Probleme handelt, werden wir den Zauberstab seiner
Phantasie gern über uns walten lassen, wo die Vernunft zu arm ist,
wo das überströmende Herz allein Wege weist. Um vom Leben nnd Tod
künden zn können, muß man die Schauer des Todes erlebt und die Quellen
des Lebens unvermittelt rauschen gehört habcn. Iean Paul hat beides mit
seinem Dichtertum zu tiefst erfahren. So ist er zu einem kosmischcn Erfassen
des Lebens gekommen, in dem Erden und Milchstraßensysteme ihre Harmonien
ziehen. Er hat Visionen, die weit über die Erde hinaustanzen in
den Weltenraum, Visionen, die nur in vorübcrflutenden Tränmen und sich
jagenden Bildern möglich sind. Leben denkt in süßen Tönen für Iean Paul;
auch ihm stehen hier Gedanken fern. Gefühl ist alles. Gefühl, das in voller
Farbenglut mit mächtigem Schwung die Phantasie bewegt. So wenn Iean
Paul das Vollgefühl des Lebens darstellt: „Wenn die Natnr alle Röhren
des Lebensstromes öffnete und wenn alle ihre Springbrunnen aufstiegen und
brennend ineinandcrspielten, von der Sonne übermalt, dann wurde Victor,
dcr mit einem steigenden und sinkendsn Herzen dnrch diese fliegenden Ströme
ging, von ihnen gehoben und erweicht, dann schwamm sein Herz bebend wic
das Sonnenbild im uncndlichen Ozean, wie der schlagende Punkt des Rädcr-
tiers im flatternden Wasserkügelchen des Bergstromes schwimmt." Bei allen
Iean Paulschen Gestalten tritt das Individualgefühl, das Gefühl „ich Lin"
zurück hinter dem Daseinsgefühl, welches das Schwergewicht auf das Sein
legt: „ich b in".* Hicrin erklärt sich auch der innerliche Zusammenhang des
Humoristen und Romantikers in Iean Paul. Fast allen seinen Gestalten ist
es eigentümlich, daß sie hart auf der Grenze stehen oder zu ihr gelangen,
wo gerade noch das Individuum, die Persönlichkeit möglich ist, ehe sie sich
selbst aufgibt. Persönlichkeit aber, die daran ist, sich aufzugeben, ist — Rudolf
Kaßner deutet das einmal an — Humor. Humor ist jener kurze leuchtende
Augenblick, da das Ich vor dem Sichhingeben in das Sein steht. Das sehn-
süchtige Verlangen selbst aber, das Fch im Sein aufzulösen, ist durch und
durch romantisch. Die beiden Hauptkomponenten des Lebensgefühles also,
das Gefühl dcs schlcchthin innigen, beglückeuden und beseligenden Scins und
das des individuellen, besonderen, schmerzeuden und quälenden, einzigartigen
So und nicht anders Seins schwingen durcheinander und zusammen zu eincm
Verhältnis, das seltsam humoristisch-romantisch bestimmt ist.

Nur das Individualgefühl bringt Leiden. Das individuelle Leben ist un-
zulänglich und soll im Tode erst Heilung von dieser Anzulänglichkeit finden.

* Vgl- hierzu Grundlegendes in Herbert Böhmstedts „Kritik des Gefühls",
dem die hiesige Linteilnng des Lebensgefühls entnommen ist.
 
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