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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 4 (2. Novembereft 1918)
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Luther, Arthur: Turgenew: zum hundertsten Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0137

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Persönlichkeit wirkte. Dostojewskij, von dem er nicht viel wissen wollte,
nnd Tolstoj, der ihn bald mächtig anzog, bald abstieß, und den er noch
in einem seiner letzten Briefe als den „großen Dichter des russischen
Landes" anflehte, zum relnen künstlerischen Schaffen zurückzukehren, haben
ihn etwas zurückgedrängt, sie erscheinen uns Heutigen bezeichnender sür
russisches Wesen und russische Art. Amd doch hat nicht nur der Literar-
historiker heute Beranlassung, Turgenews zu gedenken, denn wir emp-
finden sein Schaffen heute noch als etwas Lebendiges; nicht umsonst ver-
suchen sich immer noch neue Äbersetzer an ihm, und auch in Rußland
machte sich gerade in den letzten Iahren vor dem Kriege so etwas wie eine
Turgenew-Renaissance bemerkbar. Neben dem durch und durch dramati-
schen Dostojewskij und dem breit ausmalenden Lpiker Tolstoj behauptet der
Lyriker Turgenew seinen Platz. Neben ihrer Formlosigkeit ist er der
strenge Künstler, der seinen Stoff beherrscht. Das eben läßt ihn kleiner
erscheinen, als jene beiden. Man fühlt kein Argewaltiges bei ihm sich
Bahn brechen. (Lr weiß das Seinige wohl zu ordnen und hält gut damit
haus, eben weil er ärmer ist.

Deswegen ist er aber keineswegs arm. And gerade weil sich sein
Schaffen in Formen bewegte, die uns geläufig waren, gewann er uns einst
so schnell. Wir hatten nicht so viel äußere Hindernisse zu überwinden,
um zu dem innersten Kern seines Wesens zu gelangen — vder zu dem,
was wir dafür hielten. Er schien uns einfach und klar. Dann kam eine
Zeit, wo vor allem das Mystische, Chaotische der russischen Dichter uns
als ihr Wesentlichstes erschien, und auf die Äberschätzung Turgenews
mußte eine gewisse leichte Anterschätzung solgen, — in des Dichters Hei-
mat gerade so wie bei uns. Aber nun in Rußland das wirkliche Chaos
entfesselt tobt, hat uns Turgenew vielleicht mehr zu sagen als je vorher.
Denn er zeigt uns die andere Seite der russischen Seele, das, was uns
einst das Russentum vor allem lieb machte und was heute in Strömen
von Blut zu ersticken droht . . .

War es nicht jenes Milde, Weiche, Verträumte der Turgenewschen
Gestalten, was uns so fesselte und was heute noch seinen alten Zauber
ausübl, wenn man „Das Nest der Landjunker" oder „Die erste Liebe" oder
„Frühlingswogen" wieder durchblättert? Es wlrkt, weil wir es hier mit
keiner gemachten Lmpfindsamkeit zu tun haben, sondern mit wirklichem,
echtem, tiefem Lmpsinden. And es wirkt um so mehr, weil auf dem Grunde
des Ganzen ein tiefer, tragischer Zwiespalt liegt, den Turgenew selten
ganz deutlich ausspricht und der doch sein ganzes Schaffen beherrscht.
Sein Herz will fast immer ganz anders als sein Verstand, und so entsteht
jene merkwürdige „Objektivität", die ihm bei jedem Werke, in dem soziale
Themen behandelt wurden, die heftigsten Angriffe aus allen Lagern zuzog.
Man denke nur an „Väter und Söhne", wo der Dichter sich die größte
Mühe gibt, dem Nihilisten Basarow gerecht zu werden. Als man ihm
vorwirft, er habe in seinem Roman die russische Iugend „verleumdet",
erklärt er mit durchaus aufrichtiger Entrüstung, er denke fast in allem
ebenso wie Basarow, ausgenommen über Knnst, und er hätte geglaubt,
die Iugend würde ihm dankbar sein, daß er ihr einen sv würdigen Ver-
treter geschaffen.

And doch hatten die Widersacher nicht so ganz unrecht. Denn in seinem
Lmpfinden stcht der Dichter den „Vätern" doch näher, als den „Söh-
nen". Man hat bei diesem Roman und noch mehr bei seinem Vorgänger,
 
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