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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 4 (2. Novembereft 1918)
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Luther, Arthur: Turgenew: zum hundertsten Geburtstag
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0139

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zu. Ihm lebt die Natur ihr Eigenleben. Sie spielt in seinen Schöpfungen
eine viel bedeutendere Rolle, als in denen Tolstojs, des Landkindes, oder
gar Dostojewskijs, der überhaupt nur die Großstadt kennt. Turgenew hat
uns die russische Landschaft kennen und lieben gelehrt, und als später die
russischen Maler zu uns kamen, hatten sie gewonnen Spiel. „Ich kann
es nicht ohne Erregung sehen, wie ein mit srischen grünenden Blättern be-
wachsener Zweig sich scharf vom tzimmel abhebt. Warum? Wegen des
Gegensatzes dieses kleinen Zweiges, in dem doch so viel Leben ist, der bei
jedem Windhauch erzittert, den ich mit einem Finger knicken und töten
kann, — zu dieser ewigen leeren Auendlichkeit, diesem Himmel, der nur
dank der Erde blau und strahlend ist? Ach, ich ertrage den Himmel nicht!
Aber das Leben, seine Wirklichkeiten, seine Launen, seine Zusälligkeiten,
seine Gewohnheiten, seine schnell schwindende Schönheit — all das bete
ich an. Ich bin mit der Erde verwachsen. . ."

So schreibt Turgenew s8H8 an Mardot. Er will nur den zltternden
grünen Zweig sehen, aber er fühlt doch, daß eben der Kontrast gegen dis
„ewige leere Nnendlichkeit"' dem Zweig seine letzte tragische Schönheit
verleiht. Nnd dadurch erhebt sich Turgenew, der Landschafter, über all
die Kleinmaler, denen, wie Hebbel sagt, die Wiese in Butterblumen zer--
fließt, er fühlt mit ahnungsvollem heiligem Grauen den großen Zu--
sammenhang der Dinge miteinander, den Zusammenhang zwischen Natur
und Mensch. Wie? — Dem nachzugehen ist eine der reizvollsten Auf°
gaben für den Leser des „Tagebuchs eines Iägers". Wir können das hier
nicht mehr- nur ein paar Bilder seien in Erinnerung gebracht: die linde
Sommernacht, in der die Knaben auf der Beschinwiese die Pferde hüten
und sich beim knisternden Feuer Schauergeschichtcn erzählen,- die matte
Iulinachmittagstimmung auf der einsamen Waldlichtung und der närrische
alte Bauer Kassian, der dem „Herrn" bittre Vorwürfe macht, daß er das
Vöglein totgeschossen; die wilde Sturmnacht, in der der verirrte Erzähler
bei der Hütte des einsamen „Werwolfes" anklopft — — — Nnd endlich
die Rheinlandschast als alles belebender, alles durchdringender Hinter--
grund in einer der schönsten dichterischen Schöpfungen Turgenews, der
Novelle „Asja".

Die russische literarische Kritik, die immer nur verkappte Publizistik war,
hat Turgenews Schaffen vorwiegend soziologisch gewertet. Man sah in
dem „Tagebuch eines Iägers" vor allem den Protest gegen die >Leib°
eigenschaft, nicht das große allgemeine Mitleid mit aller Kreatur, das
dieses Buch durchdringt; man sah in den sechs großen Romanen die
Entwicklungsgeschichte der russischen Gesellschaft von den dreistiger Iahren
bis zu den siebziger und stritt über die Frage, ob in Basarow die junge
Generation verspottet oder verherrlicht sei, — während Basarow und alle
um ihn für uns doch vor allem lebendige Menschen sind, die fühlen,
kämpfen, leiden, suchen, und die der Dichter so hingestellt hat, wie er sie
sah — als Äußerungen jenes ewigen Lebens mit seinen „Launen, Zu-
fälligkeiten, Gewohnheiten", mit seiner Schönheit, die er anbetete. . .

Mit Absicht habe ich alle diese Fragen hier gar nicht berührt. Denn
nicht Turgenews historische Bedeutung wollte ich klarlegen. Ich wollte
bloß zeigen, daß er auch heute noch lebendig ist, daß er uns noch immer
etwas zu sagen hat, und einiges von dem, was er uns sagt, beleuchten.
Nur einiges: vieles, auch wichtiges, ist beiseite gelassen — wieviel ließe
sich beispielsweise nur über Turgenews Frauen sagen, die alle viel ein-
 
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