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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1918)
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Freie Kulturarbeit nach dem Kriege: ein Ausblick in die "neu orientierte" Zeit, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0213

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mehr: je mehr Mängel nnd Lücken, um so mehr Aufgaben sahen die Kultur-
führer vor sich, lockende, lohnende, großartige Aufgaben. Und da sich der
Staat ihrer Lösung Zumeist verschloß, da der Umweg über die Benutzung
politischer Kräfte infolge der Parteizersplitterung und der Feindseligkeiten dort
ungangbar schien, machte sich die Gesellschast auf eigne Faust an die Aufgabe.
Polksbildunggesellschaften, Schulreformverbände, Versuchgründungen, der Dürer--
bund, Abstinenzorganisationen, „Lebensreform"--Vereine — Bewegungen aller Art'
entstanden als freie Selbstorganisationen der Gesellschaft unter rührigen, vom
Vertrauen gewisser Schichten getragenen Führern, und die Erfolge blieben nicht
aus. Ihre Losung war Abwehr, aber auch Bessermachen. Ihre Arbeit war
schwer — die Faktoren des zügellosen, unverantwortlichen Wirtschaftlebens, also
die meisten wirtschaftlichen Faktoren, haben sich erbittert gewehrt gegen sie,
und nur wenige haben sie sich zum Autzen gemacht; die Politiker standen zu--
meist starr, engsinnig, doktrinär abseits; die Gelehrsamkeit kam gewöhnlich über
Bedenken aller Art nicht hinaus und erwies sich nur in einzelnen Fällen als
fruchtbar. Das Schicksal war zudem gütig; eine beträchtliche Zahl von schöpferi-
schen Persönlichkeiten, nehmt alles nur in allem, war an der Arbeit und stellte
in jedem Sinn ihre Leistung den Bewegungen zur Vcrfügung, Dichter und
Maler, Architekten und Denker. Schwerlich zu überschätzen ist die Summe von
Lebensfreude, Bildung und Veredlung — alle diese Worte im wcitesten, lässigsten
Sinne genommen —, welche das deutsche Volk der freien Kulturarbeit verdankt.

Aber eine Frage blieb: War es wirklich „das deutsche Volk", das so beglückt
wurde? Ie schärfer man sich den ganzen „Betrieb" der Kulturarbeit, der ja
während des Krieges trotz der Wirtschaftnot infolge seltsamer Umschichtungen,
Verblendungen und Täuschungen nur wenig nachgelassen hat, ansieht, um so
deutlicher ergibt sich die Antwort: Nein! Dünne, sehr dünne Schichtcn haben
den Nutzen von alledem gehabt; auch ein paar Millionen bedeuten ja im
deutschen Siebzig-Millionen-Volk noch keine dichte Schicht. „Das" Volk ist
doch draußen geblieben vor den Toren, drunten geblicben unter den
Wirbeln des Kultursturmes, den man eutfacht hat, nur wenige und nur schwache
letzte Wellen haben es erreicht. Ein paar Beispiele müssen genügen, die ich
notgcdrungen mft Schlagworten, oberflächlich, „summarisch" und absichtlich mft
leichter Äbertreibung anführen will.

Volksbildung. Die Volkshochschulbewcgung in Deutschland ist bald nach
den Anfängen eingeschlafen und dauach kaum wieder erwacht. Erst währcnd
des Krieges tauchen wieder Kräfte auf, die sich ihr wiümien wollen, aber zuerst
waren politisch tendenziöse auf dem Plan. And was erreicht war, wie blut--
wenig war es angesichts der ungeheuren Massen! Die Lesehallen und Bibliotheken:
zahlenmäßig mit den amerikanischen nicht zu vergleichen, noch weniger dem
Bedürfnis genügend, quantitativ der Mehrzahl nach bedenklich, obwohl vielleicht
immer noch zu begreifen, weil sie wenigstens die allerprimitivsten Bedürfnisse
auf ihre Art befriedigen. Iugendschriften: „Trotz aller Reformbestrebungen
muß es leider immer noch als Tatsache gelten: es ist nur eine recht dünne Schicht,
die wirklich aus innerem Bedürfnis heraus ästhetische Interessen hat. Änsere Zeit
liebt «s nun eininal, sehr andersartigen Neigungen nachzugehen. Änd weil man
selbst nicht fühlt, was echte Kunst für den Menschen bedeuten kann, so kümmert
man sich auch sehr wenig darum, was die Kinder treiben und lesen. Sie lesen
heute wie nur je die schauerlichsten Sachen: Indianer--, Detektiv- und Liebes--
geschichten der schlimmsten Sorte. Der Krieg hat daran nichts geändert, im Ge--
genteil, wie Pilze sind neue Scrien aufgeschossen, in denen die großen Ereig-
nisse des Krieges zu blöden Abenteuerhäufungen herabgcwürdigt werden, in
denen sich der überschlaue Detektiv und der übcrkühne Indianerhäuptling nur
schlecht unter der feldgrauen Maske verbergen. Die Großfabrikation wirft diesen
Schund in ungeheuren Mengen auf den Markt, und cin ungewöhnlich hoher
Verdienst sorgt dafür, daß jeder Papier-- und Zigarrenhändler die Hefte mit
Vergnügen verkauft." So schreibt, nach zwanzigjähriger intensivster Arbeit
«iner. der es am Lnde wissen muß, der Iugendschriften-Mitarbeiter des „Dürer-

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