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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1918)
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Avenarius, Ferdinand: Und noch einmal: Weihnachten
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0221

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schen ein Wohlgefallen" — es singt noch mit den Glocken über die Straßen
her in die tzerzen hinein, so bescheiden auch jetzt die Glocken klingen.

Aber freilich, rein ist der Klang auch für die Leute meiner Generation
schou lange nicht mehr gewesen: wer das Treiben in den Vorweihnachts-
wochen mit dem Gedanken an Ausdruckskultur snsah, dem ward nicht wohl
dabei. Schon dem nicht, der nur bedachte, welch wichtiges Ding Erziehung
zur Phantasiefreude ist, und was da von Iahr zu Iahr mehr verderbt wurde
durch dieses Spielzeug, das dem Kinde das Protzen bei- und das Selbst-
betätigen wegbrachte, durch diese tzausgreuelwirtschaft, durch dieses Liebe-
dienern gegenüber dem Stumpffinn und dem Nichtsinn. Viel mehr
verletzte längst all das Kapitalistische und Nnsoziale: dieses Reklamegeschrei
für Aug und Ohr, dem Profit alles war, das mit Waschzetteln und ver-
wandtem ülnfug ganz allgemein auch in Zeitungen und Katalogen gaunerte,
ohne daß man mehr als ein Lächeln dafür aufbrachte, und nicht nur wie
die Häudler im Tempel, nein, indem es das Heilige selbst mit Sentimen-
talität und sonstiger Verlogenheit zu Geschäftszwecken mißbrauchte, als wäre
Christus schlecht genug zum Hereinrufer ins Warenhaus. Man hat mir
ein „Zerstören der Weihnachtsstimmung", ja, eine „Entweihung des Festes"
vorgeworfen, wenn ich auf solcherlei Erscheinungen wies und weitere Nm-
blicke daran schloß. Aber mein Fehler war nicht, daß ich's tat, sondern daß
ich's nicht oft und lange nicht hartnäckig genug tat. Freilich, wer tat es
denn mehr als ich? Wer ließ sich von der Märchenstimmung nicht duldsam
machen? Auch die Kirche hat da versagt. Sie hat lange nicht oft und stark
genug von den Kanzeln gemahnt, erregt, erzogen: freut euch am Märchen-
geiste, aber laßt euch von ihm nicht einträumen, die Wirklichkeit entspreche
dem Märchengeist. Redet euch nicht ein, Weihnachteu wäre im heutigen
Vaterland ein allgemeines „Fest der Liebe", seht vielmehr. wie wenig es
eins ist, und wirkt, daß es mehr und mehr eins werde. Vertieft euch nicht
nur in die lieblichen Geschichten von Ioseph, Maria, dem Kinde, den
tzirten und Ochs und Eselein, sondern grabt an solchem Tage mit besonderem
Ernst dem nach, was im Ilrchristentum von heiligem Geiste gelebt hat, vom
Geiste der Brüderlichkeit und vom Opfergeist, vom tzerzensdienst für ein
Ideal — mag sein, daß dann aus den Tiefen der Zeit mauches euch wieder
läuternd durchglühe und schöpferisch durchblühe.

„Ehre sei Gott in der tzöhe, und Friede auf Erden, und den Menschen
ein Wohlgefallen." Wir können das Wesentliche daraus innerlich nehmen,
auch wenn wir ganz und gar keine dogmen- und offenbarungsgläubigen
Christeu, auch wenn wir Iuden oder Heiden sind. Ehre allem tzeiligen,
das wir über und in uns fühlen, Einfluß ihm auf all unser Erden-Tun,
Gestaltung nicht des Scheins, sondern der Wirklichkeit so, wie es der sozialen
Forderung enffpricht. Kein „Scherz" hat in den letzten Monaten mehr
Menschen getroffen, als der von der Kinderfrage: Gelten nach dem Kriege
die zehn Gebote wieder? Sie haben vor dem Kriege mehr, aber auch nicht
sehr viel mehr gegolten. Wird das Weihnachtsfest mit dieser furchtbaren
Zeit auch ein Fest der Vertiefung werden? Eiu Fest der Prüfung des
eignen Herzens, der Zustände, in denen wir leben, des Vergleichs init dem,
was die Sache verlangen würde, und der tatwilligen Folgerung aus dem,
was dieser Vergleich ergibt? Dann könnte mit dem holden Fest um den
Märchenbaum der Kinder und Kinderfreuirde ein zweites Weihnachtsfest,
eine rechte Hoch-Zeit sein, ein Fest, das unser Volk sittlich fördern könnte.
Die neue Zeit ruft dazu. A
 
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