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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,2.1919

DOI Heft:
Heft 7 (1. Januarheft 1919)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Freie Kulturarbeit nach dem Kriege, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.14376#0023

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sten Fällen, abzuschleifen verstand. Diese Anordnung der Nation ist weder die
Folge frnherer wirtschaftlicher „freier" Verhältnisse, noch wäre sie unter wirklich
freien Verhältnissen inöglich. In jeder erdenklichen wichtigen Beziehung ist
sie vielmehr eine Folge alter, stets sorgsam behnteter und ausgebeuteter poli--
tischer Einrichtungen. Sie steyt und fällt mit ganz bestimmten, leicht erkenn--
baren Paragraphen der Verfassung, des bürgerlichen Gesetzbuches, kurz der
gesatzten Ordnung. Sie ändern wollen heißt letzten Endes nichts anderes als:
Verfassung und Rechtsordnung ändern wollen. Dazu aber gibt es nur einen
Weg: den über die Politik. Dies ist also die Alternative, vor die jeder
Kulturpolitiker heute gestellt ist. Entweder: er muß auf V o l k s kulturpolitik
verzichten und weiterhin M i t t e l st a n d s kulturpolitik, sei es auch unter dem
Schein und der Flagge der Volkskulturpolitik, betreiben, er muß damit auch
die zweifellos nach dem Friedensschluß kommenden Hemmungen und Ersckwerun--
gen dieser Politik auf sich nehmen, kann aber dafür das staatspolitisch--wirtschaft--
liche Gebiet wie bisher vermeiden. Oder: er will wirkliche Volkskulturpolitik.
Dann aber ist er unentrinnbar gezwungen, die staatspolitisch--wirtschaftlichen
Voraussetzungen einer solchen sich klar zu machen, sie anzuerkennen und die
Folgerungen daraus zu zichen. Ich spreche abermals nur von dieser zweiten
Möglichkeit.

Man hätte nun weiter zu fragen, ob die oben in Amrissen gezeichneten
Verhältnisse weiter bestehen werden und vb sie es sollen. Vom „Sollen"
ist an dieser Stelle nicht die Rede; wer die Zerklüftung des deutschen Volkes, das
fernere Bestehenbleiben der freien Willkürwirtschaft und damit das Fortbestehen
einer wesentlich nur für den Mittelstand wertvollen und wertbaren Kulturpolitik
sittlich billigt oder praktisch wenigstens will, ist natürlich „unwiderlegbar". Was
aber wird „werden" ? Nur Vermutungen sind möglich, wenngleich nicht nur
ganz unbegründete. Die glaubwürdigste Vermutung scheint mir für mein Teil,
daß die Zustände der freien Willkürwirtschaft nebst den zugehörigen politischen,
verfassung-- und rechtmäßigen Ordnungen in nicht unabsehbarer Zeit einer tief-
greifenden Veränderung entgegengehen. Die Verarmung der Welt fpricht ebenso
hierfür wie die Tatsache, daß der Druck dieser Verarmung bei nnverändertem
Strukturshstem des staatlich-wirtschaftlichen Lebcns hauptsächlich auf die Masse
des Volkes wirken würde. Gleichzeitig aber hat diese Masse eine Art Kampf--
genossen in dem proletarisierten Teil des Mittelstandes bekommen und, was
das Ausschlaggebende ist, einen Machtzuwachs erfahren. Dieser Machtzuwachs
besteht sowohl in der ideellen Sphäre — „Erwachen der Völkcr", „sittlicher
Anspruch der Millionen, die für das Vaterland gekämpft und gelitten haben,
auf Gleichberechtigung und vermehrtes „Mitrecht am Staat" —, wie in der
praktischen: erhöhte Wirksamkeit der politischen Machtmittel wie Streik, Stimm-
rccht usw. Ist dies richtig, so stehen wir vor der Wahl, ob die Zukunft ein
Klassenkampf von noch niemals dagcwesener Gewaltsamkeit, eine heute noch
geradezu unahnbar krisenreiche und tiefdringende „Krankheit" des Volksganzen
sein soll, oder ein allmählicher Abergang zu «iner dem „Volk" und seinen
Bedürfnissen besser angepaßten Lebensordnung. Vor der Wahl, ob wir dcn
Kampf bis aufs Messer wollen zwischen alter und neuer Ordnung, oder einen
Kampf, der sich nicht sowohl um das Prinzip der neuen Ordnung als vielmehr
um ihre vernünftigste und schadloseste Einführung und Gestaltnng bewegt. Von
diesen Wahlmöglichkeiten kann, wer immer Kulturpolitik als Volks- und nicht
als Bourgeoisieangelegenhcit betrachtet, nur die zweite wünschen. Denn alles
Lun wird in der kommenden Zeit aufmerksamer und strenger als je daraufhin
gcprüft und danach gerichtet werden, ob es die ncue Ordnung begünstigt und
zu ihr gehört, oder ob es in ber alten verankert ist und sie daher stüht.
And, nochmals sei es gesagt: eine Volkskulturpolitik von Großzügigkeit und
tiefer Wirkung ist nicht möglich, ohne daß ihre Voraussetzung, ein sreies
und kulturfähiges Volk, da ist, mindestens nicht: ohne daß ihre Träger sich
gleichzeitig zu einer Staats- und Wirtschaftspolitik bekennen und für sie ein-
treten, anf Grund deren ein solches Volk erwachsen kann. Mit andern

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