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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,2.1919

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Heft 9 (1. Februarheft 1919)
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Schumann, Wolfgang: "Werte" und "Dinge": zur Gesinnungspflege in der Jugendbewegung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14376#0092

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Gemeinschaften «ntwickeln den Trieb zur Selbsterhaltung wie das Einzel»
wesen. Ls gilt für sie, das Einigende, das „Bindemittel" zu erhalten, das sie
zusammenschließt. Darum sehen wir allenthalben «ine eigenartige Sesinnung-
p f l e g e.

Aber wie „pflegt" man Gesinnungen? Wir wirken auf Kinder ein durch
Zureden, durch Befehl und Strafe, durch geschichtliches unü durch gelebtes
Beispiel. Auf Erwachsende, Erwachsene wirken von solchen Mitteln hauptsäch»
lich das erste und das letzte: Zureden, Dialektik, und das zur Nachahmung
auffordernde Darlebsn einer vorbildlichen Gesinnung. Unter dem Titel Gesin»
nungpflege gedeiht jedoch in kleinen Gruppen und sektiererischen Bewegungen
noch dies und das, was man von außen nicht ohne Bedenken gewahrt. Ich
sprech« nicht nur von Gesinnungstolz, Äberheblichkeit gegenüber Nichtteilneh-
mern — die sind ertragbar und gehen den Kern der Persönlichkeit meist nicht
an. Wohl aber von dem epidemischen Bedürfnis, die Gesinnung als solche als
besonderen, eigenen Wert zu erörtern und gegen andre Werte auszuspielen und
schließlich der Gesinnung eine Theorie unterzulegen.

Den Anfang bildet ein lautes und HLufiges Betonen des Wertss der Ge°
sinnung. Aber wer bestreitet denn den? Alle Welt, auch die gesinnunglose,
ist darüber einig, daß anständige Gesinnung ein „Wert" ist. Darüber verliert man
am besten keine Worte. Am besten erinnert man sich da des Wortss von Vischcr,
daß das Moralische „sich immer von selbst versteht". In böseste Verwirrung
geht dieseS Verfahren über, wenn dann Gesinnung in eine Wertvergleichung
mit andern Eigenschaften gezogen wird. Zum Beispiel: „Ich stelle anständige,
brüderliche, hilfsbereite Gesinnung höher als noch so tiefe Linsicht!" oder,
mii entwertensollendem Fremdwort: „Gesinnuugkultur steht mir über j'dem
Intellektualismus!" oder: „Das warme Gefühl steht höher als der kalte Ver»
stand!" Gegenfrage: stellst du jene Gesinnung auch höher als die Einsicht,
wenn der Oberbefehl über ein Kriegsheer oder der Posten des Reichskanzlers
oder auch nur eines Chirurgen zu besetzen ist, auf dessen Fähigkeit zum
Operieren es ankommt? Wir unserseits ziehen den „kaltesten" Verstand dort
dem „wärmsten" Gefühl vor, wo der kälteste Verstand hingehört. Gegen
den Intellektualismus erlauben wir nur dem zu eifern, der ihn hinter sich
hat! Tiefe Einsicht, starkcr Intellekt ersetzt zwar schwerlich Gesinnung, aber
ebensowenig «rseht Gesinnung ihn. Denn wie sind, psychologisch, die „Rollcn"
verteilt? Gesinnung bestimmt die Grundrichtungen unsres Tuns und Treibens,
weist uns in dem Kräftespiel der menschlichen Gesellschaft „unsern" Platz an.
Die zweckerwirkende Tat aber bedarf der Einsicht in die verwendbaren Mittel
des Handelns, in die einzelnen Zusammenhänge und Ursachenreihen, bedarf
also des Intellekts. Wer seine treffliche Gesinnung über den Intellekt stellt,
muß sich den Argwohn gefallen lassen, die Macht und Würde der Einsicht
nicht begriffen und noch weniger in sich erlebt zu haben. Das gilt doppelt
von der Iugend. Ihr wäre «her zu sagen: Daß ihr „Gesinnung habt", das
ist verständlich, damit erfüllt ihr erst die a l l« r b e s ch e i d e n st e Forderung,
erst da beginnt der Lebenskampf, wo die Lat beginnt, welche der Gesinnung
nicht widersprechen soll. Und hier löst Schwierigkeiten nicht mehr die Gesin»
nung allein, sondern der arbeitende Intellekt.

Am schlimmsten aber scheint mir der Versuch, aus Gesinnungen „Äberzeu-
gungen" abzuleiten. Gleichheit und Ahnlichkeit der Gesinnung ist cin wahr--
haft gemeinschaflbildendes Llemcnt, aber gleiche oder Lhnliche Aberzeugungen
können Menschen Haben, die nicht im mindesten zur Gemeinschaft taugen. Die
Gemeinschaft Gleichgesinnter gerät in Gefahr, zu zerfallen, wenn sich ihre
Glieder bemühen, aus der Gleichheit der Gesinnungen eine Gleichheit der Äber»
zeugungen zu machen, der gemeinschaftlichen Gesinnung „eine Theorie unter-
zulegen". Dies vollzieht sich und muß sich vollziehen auf dem gefährlichsten
aller Wege: Wie muß ich denn handeln, wenn ich meiner Gesinnung ent-
sprechend handeln will? Wie sieht denn also mein« Gesinnung aus? Auf diese
Frage folgt eine langwierig« Selbstzergliederung, die im Lauf« von Monaten

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