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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 57.1925-1926

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Bertelsson, Alexander: Ist Realismus Abstieg oder Aufstieg?
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https://doi.org/10.11588/diglit.9180#0071

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IST REALISMUS ABSTIEG ODER AUFSTIEG?

VON MALER ALEXANDER ÜERTELSSON—DRESDEN.

Man kann wohl mit einigem Recht sagen:
Auf dem Umweg über den Futurismus, Ku-
bismus und anderem modischen Kunst-„Ismus"
sind wir wieder beim Realismus angelangt.

Wohin wird der moderne Realismus führen?
Töricht wäre es, irgendwelche Schlüsse ziehen
zu wollen oder große Dinge vorauszusehen;
töricht wäre es ferner, zu befürchten oder zu
hoffen, daß der unablässig fortschreitende und
ringende und schaffende Geist des Künstlers
jemals einen Rückmarsch in das Lager der
flügellahmen oder der zum Stillstand gekom-
menen vorhergehenden Generation antreten
würde. Anstelle aller Prophezeiungen zunächst
einmal die Feststellung, daß die Begriffe: Rea-
lismus und Reaktion durchaus nicht identisch
sind.' Es muß dieses vor allen Dingen gesagt
werden, weil fast alle Betrachtungen über den
modernen Realismus letzten Endes sich um
diese Verwechselung der Begriffe drehen. Mo-
derner Realismus ist nur denkbar in einem
tiefen Zusammenhang mit den geistigen Stre-
bungen der Gegenwart, im Zusammenhang mit
dem leidenschaftlichen und entschlossenen Vor-
wärtsstreben der wertvollsten künstlerischen
Kräfte, die niemals resignieren oder in unfrucht-
barem Archaismus ihre Fähigkeiten verzetteln.

In gewissen Kreisen der Kunst ist man der
Ansicht, daß der Realismus lediglich aus oppo-
sitionellen Überlegungen heraus ganz folgerich-
tig erwachsen sei; daß die bewußte Abwendung
von der Realität, wie sie sich in der Kunstpro-
duktion der letzten Jahre äußerte, zu dieser
Opposition herausgefordert habe. Aber diese
Kreise sehen an dem Kern und Wesen der neuen
Kunstwelle vorbei, denn nicht die Opposition
Segen den Anti-Realismus ist das Wesentliche,
'st das was dieser neuen Kunst Wert und Be-
deutung gibt, sondern etwas viel tieferes: Es
lsLdas männliche Bewußtsein, gegen Verlogen-
heit, gegen Affektation in der Kunstproduktion
Protestieren zu müssen. Ein solches Wollen ist
auf einem anderen Schauplatz zu suchen, als auf
dem der archäologischen Neigungen. Es hat
etwas Tragikomisches an sich, zu sehen und zu
hören, wie die jüngeren bislang sehr festge-
legten Anti-Realisten von heute und die älteren
verstohlenen oder unverblümten Realisten von
gestern an diesem wesentlichen Punkt der natür-
lichsten Entwicklung der Dinge vorübersehen.

Wir haben gesehen, daß die Bezeichnung
t.moderner Realismus" bereits zu größten Miß-

verständnissen, Irrtümern und Verwechslungen
hingeführt hat. Es ist somit Grund genug vor-
handen, die Frage endlich aufzuwerfen: was
denn eigentlich unter künstlerischem Realismus
zu verstehen sei. Unter Realismus versteht
man zumeist jenes philosophische System, jene
Weltanschauung, wonach die Dinge wirklich und
außerhalb des betrachtenden Subjekts, demnach
gänzlich unabhängig von ihm bestehen sollen.
Künstlerisch gedacht bedeutet aber das Wort
„Realismus" durchaus kein philosophisches Sy-
stem, sondern ist nichts anderes als die Be-
zeichnung für eine künstlerische Anschauung,
die sich auf die sinnliche Wahrnehmung stützt:
konzentrierte Versenkung in die Erscheinungen,
im Gegensatz zu allem, was spekulativ erfun-
den, erdacht, erkünstelt ist. Realisten in der
Kunst sind daher alle diejenigen Künstler, die
sich darüber klar sind, daß es nicht darauf an-
kommen kann, die Menschheit mit mehr oder
weniger schönen erfundenen Bildern zu er-
freuen, sondern mit gefundener Wahrheit:
nicht mit Kenntnissen zu glänzen, sondern
mit Erkenntnissen hervorzutreten, nicht
künstliche Affektation anzustreben, son-
dern künstlerische Wahrheit zu suchen.

So steht auch der moderne künstlerische
Realismus lediglich im Gegensatz zu allen Be-
strebungen, die dem ästhetischen Bedürfnis die-
nen, die aus modischer Affektation, aus pro-
faner Phantasterei, oder aus bizzarrer Linien-und
Kurvenschnörkelei entstanden sind. Kurzum,
der moderne Realismus will mit der Belang-
losigkeit der Konstruktionswut, der Verlogen-
heit der Ausdrucksmanie, mit der Dürftigkeit
des sogenannten „Interessanten" aufräumen und
sucht an den Grundaufgaben alles künstler-
ischen ernsthaften Strebens festzuhalten: die
Welt, wie sie geistig-sinnlich erfaßt, erlebt, er-
schaut werden kann, durch bildnerische Mittel
im Bildwerk zum Ausdruck zu bringen. Gei-
stig — weil die Kunst als Frucht geistiger Tätig-
keit immer nur eine Realität schaffen kann, die
zugleich durchgeistigt ist, d. h. Idealität ist;
sinnlich, weil die künstlerische Tätigkeit an
sinnlich wahrnehmbaren Dinge der Außenwelt
gebunden ist.

Hier liegt der Wendepunkt, hier das Ent-
scheidende: Nicht Rückmarsch zur Natur-
anschauung von gestern, sondernFortschrei-
ten auf den Bahnen errungener, künst-
lerischer Wahrheiten! .........\. Ii.
 
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