FRANZ HAKENAUER BLECHPLASTIK »RITTER«
KLASSIK UND KLASSIZISMUS
VON ERNST V. N1ERELSCHÜTZ
Die beiden als Stilbezeichnungen in Kunst
und Literatur gern benutzen Gattungsbe-
griffe werden häufig miteinander verwechselt
oder gar für identisch gehalten. Um das Ver-
hältnis durch zwei bekannte und ehrwürdige
Künstlernamen anschaulich zu machen, sei auf
das Lebenswerk Adolf von Hildebrandts und
Hans v. Marees verwiesen. Von der Meister-
schaft beider sind wir überzeugt; beide haben
aus Gesinnungen heraus geschaffen, die sie in
ein mehr als nur zufälliges Verhältnis zum an-
tiken Ideal bringen, und doch werden wir nicht
zögern, die Leistung Marees als „klassisch",
diejenige Hildebrandts als „klassizistisch" anzu-
sprechen. Der Unterschied ergibt sich nicht nur
aus dem verschiedenen Sehwinkel, nicht nur
aus dem verschiedenen Helligkeitsgrad des Be-
wußtseins der Antike gegenüber: er wurzelt in
XXIX. Novomber 1925. 7
der Organisation des beiderseitigen Empfängnis-
vermögens. Er ist mit anderen Worten nicht
so sehr ein Grad- als ein Artunterschied.
Was auch die vollkommenste Plastik Hilde-
brandts auf den ersten Blick als klassizistisch
kennzeichnet, ist weniger das — übrigens nur
gelegentlich — der griechischen Mythologie ent-
nommene Motiv, dem eine entscheidende Be-
deutung für die Bestimmung des Stilcharakters
nicht zukommt, als vielmehr die enge Beziehung
zur antiken Form: die zeichnerische Schärfe der
Konturen, die in jeder Linie klare Ausbreitung
der Gliederplastik, die körperliche, von einem
bestimmten Kanon menschlicher Schönheit ab-
geleitete Wohlgestalt der Figur. Nicht daß ein
genau zu bezeichnendes Muster dem Künstler
vorgeschwebt zu haben braucht; aber das Vor-
bild der Antike als einer die Phantasie aus-
KLASSIK UND KLASSIZISMUS
VON ERNST V. N1ERELSCHÜTZ
Die beiden als Stilbezeichnungen in Kunst
und Literatur gern benutzen Gattungsbe-
griffe werden häufig miteinander verwechselt
oder gar für identisch gehalten. Um das Ver-
hältnis durch zwei bekannte und ehrwürdige
Künstlernamen anschaulich zu machen, sei auf
das Lebenswerk Adolf von Hildebrandts und
Hans v. Marees verwiesen. Von der Meister-
schaft beider sind wir überzeugt; beide haben
aus Gesinnungen heraus geschaffen, die sie in
ein mehr als nur zufälliges Verhältnis zum an-
tiken Ideal bringen, und doch werden wir nicht
zögern, die Leistung Marees als „klassisch",
diejenige Hildebrandts als „klassizistisch" anzu-
sprechen. Der Unterschied ergibt sich nicht nur
aus dem verschiedenen Sehwinkel, nicht nur
aus dem verschiedenen Helligkeitsgrad des Be-
wußtseins der Antike gegenüber: er wurzelt in
XXIX. Novomber 1925. 7
der Organisation des beiderseitigen Empfängnis-
vermögens. Er ist mit anderen Worten nicht
so sehr ein Grad- als ein Artunterschied.
Was auch die vollkommenste Plastik Hilde-
brandts auf den ersten Blick als klassizistisch
kennzeichnet, ist weniger das — übrigens nur
gelegentlich — der griechischen Mythologie ent-
nommene Motiv, dem eine entscheidende Be-
deutung für die Bestimmung des Stilcharakters
nicht zukommt, als vielmehr die enge Beziehung
zur antiken Form: die zeichnerische Schärfe der
Konturen, die in jeder Linie klare Ausbreitung
der Gliederplastik, die körperliche, von einem
bestimmten Kanon menschlicher Schönheit ab-
geleitete Wohlgestalt der Figur. Nicht daß ein
genau zu bezeichnendes Muster dem Künstler
vorgeschwebt zu haben braucht; aber das Vor-
bild der Antike als einer die Phantasie aus-