RUI). WACKER—BREGENZ
»HÄUSER AM BACH«
DAS EROTISCHE ELEMENT DER KUNST
VON ECKART V. SYDOW
Das 19. Jahrhundert schwankte zwischen
zwei gegensätzlichen Beurteilungen des
Wertes und Einflusses erotischer Triebkräfte im
großen, mannigfachen Umkreis der Kunstübung.
Der Klassizismus neigte dazu, alles Erotische
als dämonisch, als untermenschlich zu beurteilen
und abzuweisen, — die Romantik mit ihrer
entgegengesetzten Auffassung konnte sich auf
die Dauer umso weniger durchsetzen, als sie
selbst an ihren Beginn mit Friedrich Schlegels
„Lucinde" ungern sich erinnerte, als sie älter
werdend immer mehr dem asketischen Ideal des
Katholizismus nahe trat. Ein tiefgreifender Um-
schwung bahnte sich mit dem Darwinismus an,
der z. B. den Ursprung der Musik im Brunstruf
behauptete. Aber erst am Ende des 19. Jahr-
hunderts konnte sich diese andersartige Ein-
stellung ganz durchsetzen, als die Lehrsätze und
Erkenntnisse der Freudschen Psychoanalyse
immer allgemeiner Geltung erhielten. Nun ward
der Untergrund jedweder Kunstübung im Kern-
punkte als sensuell umschrieben und nur im
Überbau, in der persönlichen Behandlung des
Grundimpulses ward etwas Über-Sensuelles an-
erkannt. Da aber gerade dieser kultivierende
Einfluß der menschlichen Persönlichkeit und
Gemeinschaft in der Psychoanalyse ungeklärt
blieb, so fiel alles Licht, das von den oft bewun-
dernswürdig tiefschürfenden Untersuchungen
der Wiener Schule ausging, fast ausschließ-
lich auf die Mitgift erotischer Art, die jedem
Kunstwerk mehr oder minder offen beigemischt
ist. Zweifellos hat das große Interesse für die
Kunst der Primitiven ihren Grund mit in der
erotischen Atmosphäre, die ihre Dinge umgibt.
Sicherlich auch hat der Expressionismus man-
cherlei Nutzen daraus gezogen, daß das Ungestüm
seiner Farbigkeit und Linienführung nicht mit
Unrecht als Symbolik erotischer Wallungen
erklärt und erlühlt werden konnte: Noldes,
Klees. . . Dinge leben in einer Schicht leben-
triefender Produktivität. Wie sollte es auch
anders sein, da die Wendung ins Innere des
Menschen vornehmlich dem verstärkten Bewußt-
sein des organischen Lebens zu gute kommt?
Die Wendung, die sich so im Laufe des ver-
gangenen Jahrhunderts theoretisch angebahnt,
vollzogen und im 20. Jahrhundert praktisch aus-
gewirkt hat, ist für die ästhetische Erkenntnis
ebenso förderlich geworden, wie für die künst-
lerische Kraft der Formung. Die denkerische
Diskussion der Kunstwerke hatte sich allzulange
auf die rein geistigen Formverhältnisse kapri-
ziert, als daß sie nicht, wie dies schon vor 1900
317
XXIX. Februar 1926. 8
»HÄUSER AM BACH«
DAS EROTISCHE ELEMENT DER KUNST
VON ECKART V. SYDOW
Das 19. Jahrhundert schwankte zwischen
zwei gegensätzlichen Beurteilungen des
Wertes und Einflusses erotischer Triebkräfte im
großen, mannigfachen Umkreis der Kunstübung.
Der Klassizismus neigte dazu, alles Erotische
als dämonisch, als untermenschlich zu beurteilen
und abzuweisen, — die Romantik mit ihrer
entgegengesetzten Auffassung konnte sich auf
die Dauer umso weniger durchsetzen, als sie
selbst an ihren Beginn mit Friedrich Schlegels
„Lucinde" ungern sich erinnerte, als sie älter
werdend immer mehr dem asketischen Ideal des
Katholizismus nahe trat. Ein tiefgreifender Um-
schwung bahnte sich mit dem Darwinismus an,
der z. B. den Ursprung der Musik im Brunstruf
behauptete. Aber erst am Ende des 19. Jahr-
hunderts konnte sich diese andersartige Ein-
stellung ganz durchsetzen, als die Lehrsätze und
Erkenntnisse der Freudschen Psychoanalyse
immer allgemeiner Geltung erhielten. Nun ward
der Untergrund jedweder Kunstübung im Kern-
punkte als sensuell umschrieben und nur im
Überbau, in der persönlichen Behandlung des
Grundimpulses ward etwas Über-Sensuelles an-
erkannt. Da aber gerade dieser kultivierende
Einfluß der menschlichen Persönlichkeit und
Gemeinschaft in der Psychoanalyse ungeklärt
blieb, so fiel alles Licht, das von den oft bewun-
dernswürdig tiefschürfenden Untersuchungen
der Wiener Schule ausging, fast ausschließ-
lich auf die Mitgift erotischer Art, die jedem
Kunstwerk mehr oder minder offen beigemischt
ist. Zweifellos hat das große Interesse für die
Kunst der Primitiven ihren Grund mit in der
erotischen Atmosphäre, die ihre Dinge umgibt.
Sicherlich auch hat der Expressionismus man-
cherlei Nutzen daraus gezogen, daß das Ungestüm
seiner Farbigkeit und Linienführung nicht mit
Unrecht als Symbolik erotischer Wallungen
erklärt und erlühlt werden konnte: Noldes,
Klees. . . Dinge leben in einer Schicht leben-
triefender Produktivität. Wie sollte es auch
anders sein, da die Wendung ins Innere des
Menschen vornehmlich dem verstärkten Bewußt-
sein des organischen Lebens zu gute kommt?
Die Wendung, die sich so im Laufe des ver-
gangenen Jahrhunderts theoretisch angebahnt,
vollzogen und im 20. Jahrhundert praktisch aus-
gewirkt hat, ist für die ästhetische Erkenntnis
ebenso förderlich geworden, wie für die künst-
lerische Kraft der Formung. Die denkerische
Diskussion der Kunstwerke hatte sich allzulange
auf die rein geistigen Formverhältnisse kapri-
ziert, als daß sie nicht, wie dies schon vor 1900
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XXIX. Februar 1926. 8