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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 57.1925-1926

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Michel, Wilhelm: Über das Sinnliche in der Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.9180#0323

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E.NHPO-
INNSBRUCK.
»DAMEN-
J1I L DN I S«

ÜBER DAS SINNLICHE IN DER KUNST

Kunst und Religion — gut, in diesem Ver-
gleich liegt eine Wahrheit. In beiden han-
delt es sich um höchste Fragen. Beide wollen
ein reales Weltbild, eine zulängliche Weltdeu-
tung geben. Auf diesen beiden Ebenen spielt
sich, geheimnisvoll getrennt und doch geheim-
nisvoll gebunden, die Heldengeschichte des
menschlichen Geistes ab.

Aber ewig wird sich die Kunst, trotz aller
geistigen Bedeutung, die ihr zukommt, an jenem
einen Element orientieren müssen, das ihr allein
zukommt: an der Sinnlichkeit. Kunst ist sinn-
liche Gestalt. Sie darf gewiß in Übergangszeiten
das Auge für eine Weile auf schmale Kost setzen,
um den Begriff, die geistige Bedeutung desto
schärfer hervorzuheben. Aber sie darf, sie kann
nicht dauernd der Askese verfallen. Sie wird
immerwieder erwachen müssen zu dem Gefühl:
Erde, du schöner reicher Garten! Ihr hellen,

huschenden Lichter! Ihr samtigen, strahlenden
sanftgeschwelltenFlächen, ihr lieblichen, üppigen
Linien! Ihr lebendigen, beseelten Wesen! Ihr
atmenden Blumen und du ganze, innige, üppige
Fülle der geschöpflichen Welt!

Nie wird die Kunst den Beruf, die Herrlich-
keit der Kreaturen zu preisen und den Dank
für Atmen, Empfinden, Fühlen auszusprechen,
dauernd verabsäumen können. Das fühlt man
gerade in einem so gefährdeten Kunstaugenblick,
wie wir ihn gegenwärtig durchleiden. Wir haben
freilich dasChaos der jüngstenProblematik hinter
uns gebracht. Wir sehen, daß diejenigen, die es
durchwandert haben, von neuem einen festen
Boden in der Welt der Dinge gewonnen haben.
Aber wir sehen auch, daß die Tatsachenwelt,
die sie gefunden haben, noch sehr karg und fast
angstvoll aussieht. Wir sehen, daß der Mensch,
nachdem er im Expressionismus allzu frei und
 
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