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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 57.1925-1926

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Michel, Wilhelm: Offenbarung der Schönheit
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https://doi.org/10.11588/diglit.9180#0424

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E. FAHRENKAMP—DÜSSELDORF

»TOHX- UM) MUSIKZIMMER«

OFFENBARUNG DER SCHÖNHEIT

VON WILHELM MICHEL

Der Offenbarmachung der Schönheit gilt alle
Kunst. Aber Schönheit in der Kunst ist
nur möglich in schöner Welt, d. h. in jenen
Augenblicken der Entwicklung, wo alle Kultur-
gestalten reif und erwachsen sind und die ge-
waltigen Kräfte des Lebens im Gleichgewicht
stehen. Schönheit ist nicht immer möglich, weil
dieses Gleichgewicht immer wieder Störungen
erfährt. Was das fünfte vorchristliche Jahr-
hundert in Griechenland hervorgebracht hat, ist
Schönheit des reinsten und höchsten Grades.
Aber diese Schönheit war nur möglich, weil um
diese Zeit das von Asien herüberflutende, dunkle
Leben vom hellen europäischen Griechengeist
in einer ersten, entzückten Umarmung erfaßt
wurde. Dieser Augenblick ist heiß von Liebe;
im Feuer dieser Liebe verschmilzt die dunkle
Naturgewalt mit der Helle des Geistes zu jener
einzigen, unüberbietbaren Gestalt, welche die
Kunst dieses Augenblickes heute noch zeigt.

Seit dieser gewaltigen Leistung geht die Kunst
unablässig darauf aus, das Schöne unter uns zu
realisieren. Aber diese Realisierungsarbeit voll-

zieht sich unter wechselnder Gunst dergeschicht-
lichen Augenblicke, und daher kommen die oft
unkenntlichen Verhüllungen, unter denen das
Streben nach der Schönheit in der Kunstge-
schichte erscheint. Gerade weil die Kunst das
Ziel der höchsten Schönheit unverrückt im Auge
behält, muß sie an den Widerständen, die ihr
das geschichtliche Leben in die Bahn rollt, eine
Menge indirekter, vorbereitender, gleichsam
technischer Arbeit tun. Es ist wie ein Anstieg
zu einem Gipfel. Der Gipfel — das ist Höhe,
Ruhen, Ausblick, feierliche Stille. Aber solange
noch Felsblöcke den Weg zu ihm versperren,
muß mit Hacke und Pickel schwer gearbeitet
werden; es muß das Verhalten des Weges,
nicht das Verhalten des Gipfels geübt werden.
Zu solchen Zeiten verbirgt sich die Schönheit
unter der Maske des „Echten", des „Zufälligen",
des „Geistigen", des „Wirklichen". Goethe
sagt: Die Kunst ist lange bildend, ehe sie schön
ist. Das heißt: Auch wenn höchste Schönheit
unerreichbar ist, hört die Kunst nicht auf, zu
„bilden", Formen zu erschaffen, den Sinn für

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